Keine "Lustreise"

Mit der deutsch-indischen Parlamentariergruppe habe ich im Februar Indien besucht. Parlamentarische Dienstreisen stehen ja immer auch ein bisschen unter dem Verdacht, so etwas wie verlängerter Urlaub auf Staatskosten zu sein. Einige Abgeordnete fallen immer mal wieder auf, weil ihre Leidenschaft für schöne Aussichten und Souvenirs größer zu sein scheint als ihr politisches Interesse. Das sind allerdings eher Ausnahmen. In der Regel sind solche Reisen harte Arbeit und so war es auch in unserem Fall: Mehr als 50 politische Termine an neun Tagen verschafften uns einen Einblick in Politik, Kultur und Geschichte des Landes.

Seit 2014 wird Indien von den Hindunationalisten unter Premierminister Narendra Modi regiert. Dessen Partei fährt einen knallhart wirtschaftsliberalen Kurs: Sie will das noch immer durch Landwirtschaft und Dienstleistungen geprägte Land in ein Industrieland umbauen. Zentrale Bereiche dabei sind die Energiewirtschaft und die Automobilindustrie. Durch seine Vielzahl an Pharmafirmen, die zum größten Teil Nachahmerpräparate günstig für den Weltmarkt produzieren, gilt Indien zudem als "Apotheke der Welt." Wir besichtigten das Serum Institute of India, einen großen Impfstoffhersteller, der inzwischen eine Firma in den Niederlanden hinzugekauft hat, um dort auch für den europäischen Markt zu produzieren.

Mumbai im SmogMumbai und Delhi sind Millionenstädte, die ständig und unkontrolliert wachsen. Auf der Suche nach Arbeit drängen immer neue Menschen in die Städte, in denen Wohnraum und Arbeitsplätze mehr als knapp sind. In der Altstadt von Delhi erleben wir beispielsweise, wie Menschen auf engstem Raum in Kleinstmanufakturen Schnellhefter herstellen. Die einzige Maschine ist eine mechanische Stanze, an der ein Arbeiter durch Drehen an einem großen Handrad Falze in Pappbögen stanzt. Alles andere ist Handarbeit - auf etwa acht Quadratmetern. Nebenan dasselbe Bild und noch ein Haus weiter wieder. Wenn es etwas gibt, das in überreicher Menge vorhanden ist, dann ist es Arbeitskraft. Alles andere ist knapp, zum Beispiel Energie und sauberes Wasser. Schon in der Pharmafabrik sahen wir eine eigene Aufbereitungsanlage für Frischwasser in Aktion. Auch Strom stellt die Firma selbst her, denn die öffentliche Versorgung ist unzuverlässig. Mindestens an einem Tag pro Woche gibt es keinen Strom. Für Unternehmen, die Kühlungen und Brutschränke betreiben müssen, eine schlimme Sache.

Auch für die Menschen gibt es nicht genug sauberes Wasser. Als wir in Ahmedabad den Ashram besuchen, in dem Gandhi bis 1938 lebte und wirkte, schickt mir Theodor Ebert per E-Mail einen Auszug aus seinem Tagebuch von 1997, als er diesen Ashram besuchte. Eine zentrale Frage zieht sich durch alle Jahre und Jahrzehnte seit Gandhis Zeit: die Toilettenfrage. Wer 1,25 Milliarden Menschen mit sauberem Trinkwasser versorgen will, muss zunächst einmal die Hinterlassenschaften dieser 1,25 Milliarden sammeln, filtern und aufbereiten. Leider ist die feierliche Eröffnung einer Toilettenanlage oder eines Abwasserkanals nicht annähernd so beliebt bei Politikern und Beamten wie das Durchschneiden des roten Bandes an einem neuen Straßenabschnitt. Dementsprechend ist sauberes Wasser für die Menschen in Indien immer noch in weiter Ferne.

Als wir in Delhi waren, hatte sich bei den kurz vorher stattgefundenen Regionalwahlen erneut ein politisches Erdbeben abgespielt. Delhi, die alte Hochburg der Kongresspartei, war bei den Wahlen 2014 komplett an Narendra Modis BJP gefallen. Nun, bei den Wahlen zum Regionalparlament, gab es eine große Überraschung: 67 von 70 Sitzen gingen weder an die BJP noch an den Kongress, sondern an die Aam Admi Partei (AAP). Diese hat einen deutlichen Anti-Korruptions-Wahlkampf gemacht und sich gleichzeitig für Elemente eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie kostenlosen Strom und Wasser, eingesetzt. Leider konnten wir aufgrund von Terminschwierigkeiten niemanden von dieser spannenden neuen Kraft kennenlernen.

Protest für FrauenrechteEin weiteres wichtiges Thema unseres Besuchs war die Menschenrechtslage im Vielvölkerstaat Indien, insbesondere auch die Lage der Frauen. Obwohl das Mitgiftunwesen und die gezielte Abtreibung weiblicher Föten verboten sind, werden diese Gesetze kaum durchgesetzt. Und so werden in einigen Bundesstaaten inzwischen auf 1000 Jungen nur noch weniger als 850 Mädchen geboren. Diese Situation hat inzwischen auch die Politik aufgeschreckt und so wurden wir gefragt, was wir in Deutschland gegen die Geschlechterselektion in der Schwangerschaft unternehmen. Verbote allein helfen also nicht, solange Frauen und Mädchen geringer wertgeschätzt und respektiert werden als Männer und Jungen. Einige Bundesstaaten sind bereits dazu übergegangen, Prämien zu zahlen für Familien, die Mädchen haben oder ein Sparbuch anzulegen, auf dem für die Ausbildung des Mädchens jährlich Einzahlungen vorgenommen werden.

Ein weiteres, menschenrechtlich bedeutsames Thema ist die Leihmutterschaft. ExpertInnen schätzen, dass in Indien mehrere zehntausend Kinder geboren wurden, die von reichen Eltern aus den Industrieländern, insbesondere aus Australien, den USA und den EU-Ländern, in Auftrag gegeben worden waren. Immer wieder kommt es auch vor, dass die Kinder nicht von den AuftraggeberInnen abgeholt werden, zum Beispiel weil sie behindert zur Welt gekommen sind. Inzwischen ist eine starke Reproduktions-Industrie entstanden, die sich jedem Versuch der Zurückdrängung oder Regulierung widersetzt. Mich hat schockiert, dass nicht einmal feministische Gruppen diese Praxis des Gebärkolonialismus grundsätzlich infrage stellen. Sie begnügen sich zunächst mit Forderungen nach rechtlicher Klarheit und Absicherung für die Gebärenden und die Kinder.

Zweifellos wäre dies ein Fortschritt, aber wenn man generell die mangelhafte Durchsetzung von Frauenrechten in Indien berücksichtigt, bezweifle ich doch, dass die Ärmsten der Armen in der Lage wären, ihre Rechte gegen reiche WestlerInnen durchzusetzen.

Als Vorstandsmitglied der deutsch-indischen ParlamentarierInnengruppe werde ich jedenfalls diese Fragen im Auge behalten, ebenso wie die deutschen Rüstungsexporte nach Indien und Pakistan und das geplante Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU.