Liebe Leserin, lieber Leser,
im Fraktionssaal der Linken, den ich in diesen Zeiten der Video- und Telefonkonferenzen nur noch selten betrete, hängt ein Zitat des großen Philosophen Jean-Jacques Rousseau: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Dieser Satz kommt mir immer wieder in den Sinn, wenn ich sehe, wie radikalisierte Maskengegner auf den Straßen und Plätzen unserer Städte lautstark eine Freiheit einfordern, die andere Menschen die Freiheit, die Gesundheit oder gar das Leben kosten könnte. Wenn wir über Freiheit reden, dann müssen wir uns klar machen, dass persönliche Freiheit nicht ohne soziale Verantwortung gedacht werden kann. Eine vollständig ungeregelte Gesellschaft führt zur Herrschaft der Starken, denn sie verfügen über die Ressourcen, sich die Freiheitsräume der anderen anzueignen und damit massenhaft Unfreiheit zu erzeugen. Die soziale Spaltung ist ein Treiber der Unfreiheit, denn was nutzt es mir, wenn ich zwar alles tun darf, aber nichts kann, weil ich den ganzen Tag damit beschäftigt bin, das Nötigste zum Überleben zu beschaffen?
Die größte Gefahr in der aktuellen Pandemiesituation sehe ich nicht nur in der darin, dass unser Gesundheitswesen zusammenbrechen könnte, sondern dass die soziale Spaltung extrem verschärft wird. In den USA sind die Milliardär*innen während der Corona-Krise bis jetzt etwa 1 Billion Dollar reicher geworden, während zig Millionen Menschen ihre Arbeit, ihr Einkommen und ihre Existenz verloren haben. Ganz vorne weg bei den Krisengewinnern: Jeff Bezos (Amazon), der sein Vermögen laut „Forbes“ auf sagenhafte 157 Milliarden Euro steigern konnte. Wenn Jeff Bezos jeden Monat 100.000 Euro ausgeben würde und gleichzeitig keine Einnahmen mehr hätte, müsste er also 186 Jahre alt werden, um sein Vermögen zu verpulvern.
Bei uns konnten massive staatliche Hilfspakete das Schlimmste bisher verhindern, aber auch hier scheißt der Teufel wie in der Finanzkrise wieder auf den dicksten Haufen: 9 Milliarden für Lufthansa, 5 Milliarden für die Autoindustrie ohne jegliche Arbeitsplatzgarantien oder staatliche Mitbestimmungsrechte, 500 Millionen für ein Cyberforschungszentrum für die Bundeswehr - und auf der anderen Seite Kleinunternehmen, Künstler*innen, Kneipen und Clubs, die von Monat zu Monat um ihre Existenz bangen müssen: das hat eine unerträgliche Schieflage. Auch in Deutschland waren es die ohnehin Reichsten, die von der Krise am meisten profitiert haben: Die Familien Albrecht (ALDI), Schwarz (LIDL), Plattner und Hopp (SAP) können ihre Milliarden vermehren, während Lieschen Müller und Otto Normalverbraucher mit sinkenden Einkommen und gestiegenen Preisen zu kämpfen haben. Doch statt deren Paläste zu stürmen und sich mit streikenden Krankenschwestern zu solidarisieren, geht der besorgte Deutsche gegen die Maskenpflicht und die Beschränkungen des öffentlichen Lebens auf die Straße, die dazu dienen sollen, die Ausbreitung eines Virus’ soweit zu begrenzen, dass die Krankenhäuser nicht entscheiden müssen, welche Kranken sie überhaupt noch behandeln und welche sie einfach sterben lassen müssen. Vor allem die Maske ist zum Symbol einer eingebildeten Unterdrückung geworden. In Japan und Südkorea schütteln die Leute den Kopf über uns. Dort ist es schon lange Ausdruck der Höflichkeit und der Rücksichtnahme, wenn man verschnupft ist, in der Öffentlichkeit eine OP-Maske zu tragen. Und nein, die Dinger sind für Japaner*innen nicht weniger nervig als für unsereins. Aber in Japan haben sich nur etwa 150.000 Menschen bisher mit dem SARS-COV2-Virus infiziert, in Deutschland sind es inzwischen über eine Million. In China, dem Land mit 1,3 Milliarden Menschen, sind bisher weniger als 5.000 Menschen im Zusammenhang mit dem Virus gestorben, in Deutschland mit 83 Millionen Menschen bereits über 16.000. Das zeigt für mich, dass der asiatische Weg, mit der Pandemie umzugehen, offenbar erfolgreicher ist als der europäisch-amerikanische. Was interessant ist: in Japan etwa reichen Appelle, um die Bevölkerung zu angepasstem Verhalten zu motivieren, während in Deutschland ohne Verordnungen mit Bußgeldandrohung keine durchgreifende Verhaltensänderung zu erreichen ist. Gleichzeitig dienen die rechtlichen Einschränkungen als Motor für die Bewegung der Coronaleugnenden: Jede Verordnung, jedes Gesetz wird als Angriff auf die eigenen Rechte interpretiert, statt als Schutzmaßnahme für diejenigen, die auf eine Eindämmung des Virus angewiesen sind und sich allein nicht schützen können. Da demonstrieren also Leute für ihr Recht, nicht an die Existenz einer Naturkatastrophe glauben zu müssen, und sich weiter so verhalten zu dürfen, dass sie anderer Menschen Gesundheit und Leben gefährden. Als wäre das allein nicht schon absurd genug, geht die Argumentation häufig bis an die Grenzen von Eugenik und Sozialdarwinismus oder gar darüber hinaus. Wenn etwa argumentiert wird, die COVID-19-Opfer seien ohnehin bald gestorben (was nicht stimmt), dann heißt das konsequent zu Ende gedacht, dass Kranke und Schwache kein Recht auf Leben haben. Oder wenn es heißt, dass man gar nicht erkranken könne, wenn man sein Immunsystem gestärkt habe (was auch nicht stimmt), dann bedeutet das, dass den Opfern des Virus’ auch noch die individuelle Verantwortung für ihre Erkrankung zugeschoben wird - und das auch noch von denjenigen, die auf ihrem eigenen „Recht“ zur größtmöglichen Verbreitung dieses Virus beharren. Wenn dann noch gesagt wird, alle, die öffentlich von ihrer Erkrankung oder vom Verlust von Angehörigen durch COVID-19 berichten, seien „gekauft“, kann man nur noch schaudern vor so viel Empathielosigkeit. Ehrlich gesagt wundert es mich nicht, dass sich Reichsbürger*innen, Rechtsextreme und Neonazis in solchen Kreisen wohlfühlen. Viele Menschen berichten, dass sie im Freundeskreis oder in der Familie inzwischen nicht mehr über Corona sprechen, weil es dort Menschen gibt, die den Verschwörungserzählungen auf den Leim gegangen sind.
Ich glaube, das ist falsch. Wir müssen reden. Und dabei ist es klug, vor allem über Gefühle zu sprechen und Fragen zu stellen: Warum glaubst du das? Wovor hast du Angst? Was macht dich so wütend? Auch über die eigenen Gefühle sollten wir mehr sprechen. Ja, auch mir geht die ganze Situation gerade mächtig auf die Nerven. Ich kann keine Videokonferenzen mehr sehen und möchte Menschen, die ich lange nicht mehr getroffen habe, vor Freude in den Arm nehmen. Ja, ich kann die Empörung gut verstehen, dass die Politik den Sommer so wenig genutzt hat, um Konzepte für den Winter zu entwickeln, das macht auch mich wütend. Ich habe Angst, dass ich mich etwa im Zug oder in Sitzungen im Bundestag anstecke und das Virus an andere Menschen weitergebe, dass ich also durch Nachlässigkeit Menschen gefährde. Ich habe aber auch Hoffnung, dass die Impfstoffe, die bald zugelassen werden, uns wieder ein entspannteres Leben ermöglichen werden. Natürlich bin ich ein bisschen nervös, wenn ich daran denke, dass sie im Schnellverfahren zugelassen werde. Andererseits wäge ich das Risiko einer COVID-19-Erkrankung für mich und meine Lieben gegen das mögliche Worst-Case-Szenario der Impfung ab. Und da gewinnt die Impfung meilenweit gegen „Kopf in den Sand und durch“. Ich denke, wenn man begriffen hat, was dieses Virus in menschlichen Körpern anrichten kann, dann muss man die Freiheit zur Verantwortung so nutzen, dass man niemanden, dem man nahe kommt, wissentlich dieser Gefahr aussetzt, wenn man es verhindern kann, und zwar unabhängig davon, ob es ein entsprechendes Gesetz oder eine Verordnung gibt. Im Moment heißt das: Maske auf, Abstand halten, Lüften, und Händewaschen. Bald wird es zusätzlich den Schutz durch Impfungen geben, und das ist gut so.
Habt einen schönen Advent!
Eure Kathrin
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