Lahme Grippeschutz-Impfkampagne trifft auf marodes Gesundheitssystem

Die WHO fordert eine Grippeschutz-Impfquote von 75%, Deutschland schafft gerade mal ca. 45%. Schon jetzt, noch vor dem Höhepunkt der Grippewelle, ist die Lage in Krankenhäusern und Kinderkliniken dramatisch. In einer Kleinen Anfrage hat sich Kathrin Vogler bei der Bundesregierung erkundigt, warum der Grippeschutz bei uns nicht läuft.

Kathrin Vogler: "Das Gesundheitsministerium ist seltsam uninteressiert an wirksamer Prävention"

„Auch bei der Grippewelle will die Bundesregierung uns glauben machen, sie habe alles im Griff  Die Realität sieht jedoch anders aus: Von Oktober bis Dezember 2022 (44. bis 49. KW) stieg die Zahl der Influenza-Infekte rapide an. Erwachsene mit Influenza-Infektionen und Kinder mit RSV-Infektionen verschärfen die Lage in Krankenhäusern und Kinderkliniken inzwischen dramatisch, hinzu kommt ein hoher Krankenstand beim Krankenhauspersonal.

Eine wenig erfolgreiche Impfkampagne zum Grippeschutz trifft auf ein marodes Gesundheitssystem mit überlasteten Arztpraxen, immer weniger Personal in Krankenhäusern und immer weniger Kinderstationen, die jetzt auch noch die vom gleichzeitig auftretenden RS-Virus betroffenen Kinder und Säuglinge versorgen müssen.

Ich habe im Gesundheitsausschuss immer wieder nachgefragt, warum die Bundesregierung keine Aufklärungskampagne zum Nutzen einer gleichzeitigen Impfung gegen COVID 19 und Influenza macht. Darauf bekam ich nie eine befriedigende Antwort. Nun beruft man sich darauf, dass zwei einzelne Kampagnen angeblich wirksamer seien als eine gemeinsame. Die unbefriedigenden Ergebnisse bei jeder der beiden Impfkampagnen nimmt die Bundesregierung überhaupt nicht zu Kenntnis. Gerade im Jahr 2 der Corona-Impfung wäre es zentral gewesen, darüber aufzuklären, dass die beiden Impfungen parallel gegeben werden können, so dass man nicht zweimal zum Arzt oder in die Apotheke muss. Außerdem ist die Schwerpunktsetzung auf die Aufklärung in Arztpraxen völlig aus der Zeit gefallen: Man kann doch keineswegs davon ausgehen, dass über 60-Jährige und chronisch Erkrankte auf jeden Fall im Oktober eine Arztpraxis aufsuchen, um dort das Informationsmaterial zu sehen und an die Grippeimpfung erinnert zu werden. Auch wäre es sinnvoll, altersspezifisch ansprechende Informationen für junge Eltern und junge Erwachsene zu erstellen und – zum Beispiel – in den Sozialen Medien zu verbreiten; denn laut RKI waren in der 49. KW alle Altersgruppen von einer Hospitalisierung mit Influenza betroffen, besonders häufig wurden Influenza-Diagnosen bei Kindern und jungen Erwachsenen (5 bis 34 Jahre) erstellt. Statista gibt diesbezüglich an, dass sich in der Altersgruppe der 16- bis 29-jährigen nur 10 Prozent, in der Altersgruppe der 30- bis 44jährigen nur 18 Prozent regelmäßig gegen Grippe impfen lassen.

In den Antworten auf meine Kleine Anfrage (KA) zeigt sich das Gesundheitsministerium seltsam uninteressiert an einer wirksamen Prävention. Dabei muss doch eine der Lehren aus der Corona-Pandemie sein, dass die Vermeidung unnötiger Infektionen nicht nur schweres Leid verhindern, sondern auch das aus dem letzten Loch pfeifende Gesundheitssystem entlasten kann.“

 

KA-Kurzauswertung: der ministerielle Blindflug bei der „Saisonalen Influenza-Impfstoffversorgung“

Die Notlage kam nicht überraschend: Im Mai, zum Start der Grippesaison auf der Südhalbkugel, gab es einen sehr frühen und sehr starken Anstieg von Grippefällen, der eine schwere Grippewelle 2022/2023 auch auf der Nordhalbkugel erwarten ließ. Trotzdem war Deutschland schlecht vorbereitet. Das RKI meldet aktuell, am 15. Dezember, 2.700 Arztkonsultationen wegen akuter Atemwegserkrankungen auf 100.000 Einwohner*innen, eine Zahl, die sonst nur in Spitzenwochen starker Grippewellen erreicht wurde. Nach der virologischen Sentinelsurveillance werden die Erkrankungen zu 55 Prozent durch Influenzaviren verursacht. In seinem Wochenbericht vom 15. Dezember geht das RKI von 9,3 Millionen akuten Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung aus, unabhängig von einem Arztbesuch, d.h. zurzeit ist etwa jeder 9. Mensch in Deutschland von einer solchen Erkrankung betroffen. Die Spitze der Infektionszahlen wird zum Jahreswechsel erwartet.

In der Kleinen Anfrage wird u.a. abgefragt (Frage 1), was die Bundesregierung tut, um Deutschland auf die  Grippeepidemie vorzubereiten. In seiner Antwort verweist das Gesundheitsministerium darauf, dass die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) … seit Oktober 2022 in Kooperation mit dem Robert Koch-Institut (RKI) die jährliche reichweitenstarke Informationskampagne zur Grippeschutzimpfung“ durchführt; auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) kommuniziere „aktiv und zielgruppenspezifisch zur Prävention von Influenza, um einer Überlastung von Krankenhäusern und des Gesundheitssystems im Allgemeinen entgegenzuwirken“.

Offenbar reichen diese Maßnahmen bei weitem nicht aus. Schon im November wurden doppelt so viele Grippefälle gemeldet wie vor einem Jahr, die Schulen melden bundesweit bei Schüler*innen und Lehrkräften so viele Krankheitsfälle wie noch nie. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft berichtet von einem überdurchschnittlich hohen Krankenstand bei den Beschäftigten in den Kliniken, fast jeder zehnte Mitarbeiter sei erkrankt. Und das, während zugleich immer mehr kleine Kinder und Säuglinge insbesondere mit RSV in die Kinderkliniken und -stationen eingeliefert werden.

In der letzten Saison haben sich nur 43% der besonders gefährdeten Menschen über 60 Jahren und mit bestimmten Grunderkrankungen impfen lassen. Die WHO empfiehlt eine Impfquote von 70 bis 75 Prozent.

Wie hoch die Impfquote genau ist (Frage 6), wissen auch die Bundesregierung und das RKI nicht: „Die Daten zu den Grippeschutzimpfungsquoten werden mit einem Zeitverzug von ca. 6 Monaten veröffentlicht.“ Das liegt daran, dass diese Daten rückwirkend auf der Basis von Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und ergänzenden RKI-Online-Befragungen ermittelt werden. So besteht gar keine Datengrundlage, um kurzfristig nachzusteuern, etwa die Werbung für die Impfung zu intensivieren.  Das wäre auch jetzt noch sinnvoll, da es nur ca. 14 Tage dauert, bis nach einer Grippeschutzimpfung genügend Antikörper gebildet sind. Eine der wichtigen Erfahrungen aus der Corona-Pandemie war, dass ein zeitnahes Monitoring der Infektionszahlen und Impfquoten durchaus hilfreich ist, um flexibel und angemessen auf eine Infektionswelle zu reagieren. Erfahrungen, die in den Umgang mit der Influenza nicht eingeflossen sind.

Auf die Frage (Frage 14), warum älteren Menschen in Deutschland – anders als in anderen Ländern –  nur ein altersgerechter hochdosierten Influenza-Impfstoff angeboten wird, bleibt die Bundesregierung eine Antwort schuldig. Anstatt hier durch mehrere Anbieter möglichen Lieferengpässen vorzubeugen, hat die Bundesregierung im März 2021 mittels einer Rechtsverordnung sichergestellt, dass im Falle eines Lieferengpasses für Ältere stattdessen die Impfung mit dem niedriger dosierten Impfstoff von den Krankenkassen bezahlt wird, auch wenn der, wie es in der Antwort (auf Frage 15) heißt, eine „leicht niedrigere Schutzwirkung“ aufweist.

Interessant ist die Position der Bundesregierung, wenn es um die Überwindung akuter Impfstoffengpässe geht. (Frage 24) Zwar wurde der Reservezuschlag für die Bestellung von Grippeimpfstoffen durch die Ärzt*innen in den Impfsaisons 2020/2021 bis 2022/2023 auf 30 Prozent angehoben; zugleich wird aber darauf verwiesen, dass es „den Herstellern und den am Bestellprozess Beteiligten [obliegt], für eine ausreichende Verfügbarkeit an Grippeimpfstoffen Sorge zu tragen“.

Es ist und bleibt – gerade angesichts immer wieder auftretender Verknappung bei wichtigen Impfstoffen und Medikamenten unverständlich, warum man die Entscheidung über die Produktionsmengen wichtiger Arzneien der Pharmaindustrie überlässt, die im Falle der Grippeimpfstoffproduktion selbst kritisiert, dass sie von den zuständigen Stellen – Gesundheitsministerium und RKI – zu wenige und zu späte Daten erhält, um die Produktion effizient planen und durchführen zu können.

 

Medien-Echo:

  • Pharmazeutische Zeitung, 21.12.2022: BMG: Apotheken erhöhen Impfquote. "Durch ihr niedrigschwelliges Impfangebot erhöhen die Apotheken die Quote der Grippeschutzimpfungen. Davon zeigt sich das Bundesgesundheitsministerium in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken überzeugt. Der gesundheitspolitischen Sprecherin der Partei, Kathrin Vogler, geht das Engagement der Bundesregierung gegen die grassierenden Influenzazahlen aber nicht weit genug."
  • Kathrin Voglers KA „Saisonale Influenza-Impfstoffversorgung“ (BT-Drs. 20/4673) hier demnächst zum downloaden.