Der „eingefrorene“ Krieg in der Ukraine: Eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa

Alain Aeschlimann, seit 2015 Leiter der Delegation des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in der Ukraine, traf sich am 22. Februar mit Kathrin Vogler und Andrej Hunko in Berlin, um mit den beiden MdBs über die aktuelle Situation der Menschen im Donbass zu sprechen. Die Nachrichten, die er mitbrachte, klangen nicht gut: die humanitäre Lage sei katastrophal, die politische verfahren – und alles geschieht inzwischen weitgehend jenseits des westlichen Medieninteresses.

Der „eingefrorene“ Krieg

Aber auch wenn der Ukraine-Konflikt in der öffentlichen Debatte derzeit nur noch dafür herhalten muss, die aggressive Politik der westlichen Staaten gegenüber Russland zu legitimieren, als Grund für fortgesetzte Militärmanöver an der Grenze zu Russland oder als Argument für weitere Aufrüstungsbestrebungen der Bundesregierung – für Millionen Ukrainer*innen, die gerade den vierten Kriegswinter durchleben, ist dieser Konflikt immer noch eiskalte Realität. Seit Beginn des Kampfhandlungen 2014 starben auf beiden Seiten nach UN-Angaben 10.000 Kämpfer und Zivilist*innen; fast 1,7 Millionen Ukrainer*innen sind als Binnenflüchtlinge registriert; rund 1.500 Menschen gelten aktuell als vermisst – die meisten von ihnen sind Männer im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordination der humanitären Hilfe (OCHA) in der Ukraine geht davon aus, dass inzwischen insgesamt 4,4 Millionen Menschen vom Krieg im Osten des Landes betroffen sind. Die OSZE-Beobachter in der Ukraine berichten, dass die Kämpfer die längeren Kampfpausen der letzten Monate genutzt haben, um weitere Schützengräben zu bauen und neue Minenfelder anzulegen. Inzwischen zählt die OSZE im Donbass bis zu 700 Verstöße gegen die Waffenruhe – pro Tag!

Die humanitäre Katastrophe

Das IKRK, so Alain Aeschlimann, gibt zurzeit in der Ostukraine mehr Geld aus, als in allen afrikanischen Krisenregionen. Deutschland ist eines der größten Geberländer. Die Arbeit sei zwar leichter geworden, aber die Probleme seien vielfältig und kaum zu bewältigen. Die Trinkwasserversorgung im Donbass sei ständig gefährdet, weil das ukrainische Militär gezielt Raketen auf die Wasserwerke in der Region abfeuere. Das Gebiet entlang des Minsker Demarkationsstreifens, oft euphemistisch als „Kontaktlinie“ bezeichnet, ist vermint – eine „breite, äußerst gefährliche No-Go-Zone“, so Aeschlimann, der im Jahr bis zu 300 Menschen zum Opfer fallen. Bis zu 600.000 Ukrainer*innen leben entlang des Demarkationsstreifens, darunter 100.000 Kinder. Durch die Kämpfe der letzten Monate wurde die Wasser-, Gas-, Elektrizitäts- und Wärmeversorgung vielerorts unterbrochen, Hunderte von Häusern und Wohnungen wurden entweder beschädigt oder zerstört. Die Menschen sind dem Winter ohne angemessenen Schutz, Heizung oder Nahrung, ausgeliefert. Dazu kommen die häufigen Artilleriegefechte, in denen immer wieder auch Zivilist*innen verletzt oder getötet werden. Es mangelt zudem an ärztlicher Versorgung und Medikamenten.

Das OCHA konnte den Menschen in der Ukraine 2017 nur ein Drittel der benötigten materiellen und finanziellen Unterstützung zukommen lassen; die Not in den Kriegs- und Krisenregionen Jemen, Südsudan, Tschad, Afghanistan, wo bis zu 60 Prozent der Bevölkerung von Hunger bedroht sind, werden als noch akuter eingeschätzt. Auch das InternationaleKommittee vom Roten Kreuz muss kämpfen, um die notwendigen Mittel für die Ukraine aufzubringen. Alain Aeschlimann berichtete dem NGO-Medium „Hromadske“, das IKRK habe „das Jahr 2017 mit einem Defizit beendet, der Betrag, den wir für die Ukraine zur Verfügung hatten, konnte die notwendigen Ausgaben nicht decken“. Die Ukraine, so Aeschlimann sei die "achte oder neuntgrößte Mission" des IKRK. Dass man nicht optimistisch ist, was die Zukunft des Landes betrifft, verdeutlicht die IKRK-Planung für 2018: Die Hilfsorganisation will insgesamt 69 Mio. US-Dollar für die Ukraine bereitstellen, ein Anstieg um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die politische Perspektive

Mit seiner Unterschrift unter das umstrittene Donbass-Gesetz hat Staatspräsident Poroschenko am 20. Februar den Friedensplan für die Ostukraine faktisch außer Kraft gesetzt. Im Gesetzestext ist von „abtrünnigen Gebieten im Osten“, die vom „Aggressorstaat“ Russland okkupiert wurden, die Rede. Auch Alain Aeschlimann bewertet dies als drastischen Rückschlag: Die politische Umsetzung des Minsker Friedensabkommens sei in weite Ferne gerückt. Trotzdem hofft auch er darauf, dass eine zivile Lösung für diesen Konflikt gefunden wird. Die Hilfsorganisationen wissen sehr genau, dass ihre Arbeit weltweit auch dazu beiträgt, die Folgen politisch-ökonomischer Ausbeutungs- und Verteilungskämpfe zu kompensieren. Andre Vornic, Sprecher des Welternährungsprogramms (WFP), brachte es in einem Interview mit der Thomson Reuters Stiftung auf den Punkt: „Solange die Kriege nicht gestoppt werden, wird das, was wir tagsüber aufbauen, nachts wieder zerstört … ohne Frieden gibt es keine Chance, den Hunger zu beenden – egal, was wir tun.“

 

Quellen:

27.02.2018, www.heise.de/tp/features/Brain-Drain-Massenauswanderung-aus-der-Ukraine-3979258.html

26.02.2018, www.deutschlandfunk.de/lage-in-der-ostukraine-ich-habe-nirgendwo-so-traurige.694.de.html

24.02.2018, www.tagesspiegel.de/politik/konflikt-in-der-ostukraine-das-leid-der-menschen-ist-unsaeglich/20998566.html

20.02.2018, www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/poroschenko-unterschreibt-gesetz-zu-abtruennigen-gebieten-100.html

20.02. 2018, www.derstandard.de/story/2000074674372/poroschenko-hat-umstrittenes-donbass-gesetz-unterschrieben

19.02.2018, www.spiegel.de/politik/ausland/krim-krise-und-donbass-die-verschwundenen-der-ukraine-a-1193261.html

14.02.2018, www.rnd-news.de/Exklusive-News/Meldungen/Februar-2018/Wehrbeauftragter-rechnet-mit-Ukraine-Mission-der-Bundeswehr

14.02.2018, www.augsburger-allgemeine.de/politik/Poroschenko-und-Putin-telefonieren-zu-Ukraine-Treffen-id44220296.html

14.02.2018, en.hromadske.ua/posts/in-east-ukraine-locals-and-aid-agencies-struggle-through-wars-fourth-year

01.02.2018, www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/un-ohne-frieden-kein-ende-der-hungersnoete/