Mehr Vertrauen in die Organspende ist erforderlich, damit Solidarität entsteht.

Rede im Bundestag

Eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hat sich heute für die Zustimmungslösung bei der Organspende ausgesprochen. Die doppelte Widerspruchslösung, bei der alle Bürger erst einmal automatisch als Spender gelten und die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unterstützt hat, ist abgelehnt worden. Ein großer Erfolg für die interfraktionelle Parlamentarier*innengruppe um Kathrin Vogler.

Zum Video der Rede Kathrin Voglers

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Redeprotokoll des Bundestages

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Herr Nüßlein, wenn ich die Sicherheit hätte, dass wir durch die Widerspruchsregelung auch nur ein einziges Menschenleben real retten würden, dann würden wir vielleicht eine andere Diskussion führen oder diese Diskussion auch nicht führen.

Ich beschäftige mich jetzt seit 2011 mit diesem Thema, und es ist mir persönlich auch sehr nahe; denn es ist ja kein abstraktes, theoretisches Problem, über das wir hier reden, sondern, weil es eben um Menschenleben und Gesundheit geht, ein sehr emotionales. Deshalb waren wir uns auch bisher hier in diesem Hause einig, dass wir Veränderungen sehr konsensorientiert und breit anlegen wollten. Ehrlich gesagt, Herr Spahn, es hat mich schon gewundert, dass Sie und wie Sie mit diesem Vorstoß von diesem Konzept, von diesem Weg abgewichen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Hilde Mattheis (SPD))

Mich wundert außerdem, dass oft ein Widerspruch zwischen den Menschen konstruiert wird, die Organe spenden, und denjenigen, die auf ein Spenderorgan angewiesen sind; denn wir reden über dieselben Menschen.

Erst vorgestern habe ich mit einer guten Freundin telefoniert, die seit etwa einem Jahr nach einem Nierenversagen auf die Dialyse angewiesen ist. Für sie war das letzte Jahr wirklich das schlimmste in ihrem bisherigen Leben. Sie will unbedingt wieder arbeiten und auch politisch aktiv sein; aber all das ist im Augenblick nach mehreren gesundheitlichen Rückschlägen in weite Ferne gerückt. Es ist ganz klar: Sie braucht in absehbarer Zeit eine Organtransplantation, um überhaupt weiterzuleben.

Diese Freundin hat mein Engagement für die Verbesserung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende von Anfang an kritisch verfolgt und ist inzwischen inhaltlich ganz auf meiner Seite. Sie hat mich gebeten, dass ich ihr als Betroffener hier eine Stimme gebe, damit Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies bei Ihrer Entscheidung berücksichtigen können.

Sie sagte zu mir: Ich bin selbst seit vielen Jahrzehnten Organspenderin, ich habe einen Ausweis. Das ist für mich selbstverständlich. Aber es ist für mich auch wichtig, dass ich das freiwillig entscheide. Ich will nicht dazu genötigt werden, irgendwohin zu gehen, um dort zu sagen, was ich nicht will. Für mich ist die Organentnahme etwas Respektvolles, Angesehenes, und ich möchte, dass das so bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Mir behagt es nicht, sagte sie, dass unsere Körper als Warenlager für Organe betrachtet werden. Ich habe das Gefühl, sie werden so zu einer Ware, die genutzt und verwertet werden kann, und das bedeutet für mich, dass wir den Respekt verlieren.

(Beifall bei Abgeordneten CDU/CSU und der FDP)

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagt eine Frau, für die Organspende nicht nur eine Selbstverständlichkeit ist, sondern auch eine riesige Hoffnung. Sie hat einfach ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, dass Menschen keine freie Entscheidung über ihren Körper mehr treffen können, sondern sich bei einer Behörde als Nichtspender registrieren lassen müssen. Diese Skepsis teile ich vollkommen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, sie hat auch ein feines Gespür für das, was viele Menschen empfinden und warum die Widerspruchsregelung absolut keine Garantie dafür bietet, dass es am Ende mehr Spenderorgane gibt. Auch wenn Sie das sicherlich nicht wollen, sät sie doch Zweifel und verstärkt bereits vorhandene Ängste; denn wenn wir von den Menschen erwarten, dass sie der Organspende vertrauen, dann sollten wir doch auch ihnen das Vertrauen entgegenbringen, dass sie als soziale Wesen zur Solidarität und zur Uneigennützigkeit fähig sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber verlangen oder gar anordnen dürfen wir das doch nicht.

Sie sagen uns nun, dass jeder auch ganz frei widersprechen könne. Das geht meiner Ansicht nach aber an der Lebensrealität vieler Menschen in diesem Land vorbei. Ich kenne eine Reihe von Leuten, die dazu nicht in der Lage sind oder die von Informationen nicht erreicht werden. Dabei denke ich etwa an wohnungslose Menschen. Wie sollen sie über ihre Pflichten und Rechte aus diesem Gesetz informiert werden? Oder ich denke an Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen. Was ist mit den etwa 7 Millionen funktionalen Analphabeten oder gar mit den Menschen, die aus Angst vor Rechnungen, Mahnungen, Gerichtsvollziehern ihre Post überhaupt nicht mehr öffnen, mit Menschen, denen eine Depression vielleicht nicht ihre Fähigkeit zur Entscheidung geraubt hat, aber doch die Fähigkeit, die Entscheidung umzusetzen?

Ehrlich gesagt, in meiner Lebenswelt haben 16-Jährige

(Zuruf von der CDU/CSU: 18 Jahre!)

- und auch 18-Jährige -, lieber Jens Spahn, ganz andere Dinge im Kopf, als sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Sie haben auch das verdammte Recht darauf, das in dieser Phase nicht zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der AfD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Menschen, die ohnehin ständig Angst vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung haben, werden auch nicht zum Amt gehen und sagen: Hallo, ich möchte kein Organspender sein. Aber ich kann nicht lesen und schreiben. Können Sie mir mal bitte bei dem Formular helfen? - Das ist völlig lebensfremd. Deswegen meine ich, wir müssen Gelegenheiten zur positiven Entscheidung, zur positiven Information, zum Gespräch bieten, und das tun wir mit unserem Gesetz zur Förderung der Entscheidungsbereitschaft. Deswegen bitte ich Sie, dem zahlreich zuzustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Pressespiegel vom 16. Januar 2020

ZDF heute journal: Organspende: "Ja" weiter nötig

ZDFheute: Widerspruchslösung fällt durch - Organspende: Alles bleibt anders

evangelisch.de/dpa: CDU-Politikerin: Organspende-Debatte belastet von Tabuthema Tod

Badische Zeitung: «Widerspruchslösung» scheitert. Bundestag beschließt moderate Organspende-Reform

Der Focus: Organspende-Reform: Mehr Menschen sollen sich entscheiden

Handelsblatt: Widerspruchslösung abgelehnt: Organspenden weiter nur bei ausdrücklicher Zustimmung möglich

IDEA: Organspende: Bundestag lehnt Widerspruchslösung ab

MOZ: "Widerspruchslösung" scheitert. Bundestag beschließt moderate Organspende-Reform

Südeutsche Zeitung: Bundestag beschließt moderate Organspende-Reform

Süddeutsche Zeitung: "Eine Zumutung, die Menschenleben rettet"

Die Zeit: Wir müssen darüber reden, wie wir sterben.

Berliner Zeitung: Organspende: Bundestag stimmt für Zustimmungslösung

Deutsche Welle: German parliament: Explicit consent still necessary from organ donors

Neue Osnabrücker Zeitung: Niederlage für Spahn. Organspende: Deutsche sollen alle zehn Jahre gefragt werden

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