Rede vor Westfleisch in Oer-Erkenschwick am 6.6.2020

Am 6.6.2020 besuchte Kathrin Vogler die Kundgebung vor dem Werksgelände von Westfleisch in Oer-Erkenschwick. 

Ihre Rede im Wortlaut:

Wir stehen hier vor dem Standort der Firma Westfleisch in Oer-Erkenschwick, aber die Zustände, gegen die wir protestieren, die sind in vielen Schlachthöfen ganz ähnlich, ob bei Tönnies, bei Danish Crown oder bei Sprehe und mit diesen Zuständen dürfen wir uns nicht abfinden!

Seit vielen Jahren macht die Fleischindustrie immer wieder mit Skandalen von sich reden. Da geht es um Missbrauch und Ausbeutung von Menschen ebenso wie um gequälte und misshandelte Tiere. Immer wieder hat der Gesetzgeber versucht, die schlimmsten Auswüchse dieser Ausbeutungsmaschinerie zu bekämpfen, zuletzt 2017, als der Bundestag kurz vor dem Ende der Wahlperiode noch ein Gesetz verabschiedet hat, das die Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen verbessern sollte.

Nun hat die Corona-Krise an den Tag gebracht, wie wenig das genützt hat. Nun kann man natürlich sagen, Schuld seien die Eigentümer*innen oder die Geschäftsführer*innen dieser Betriebe und ihre Gier nach Profit, aber das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit haben wir es mit einem komplexen System von Ausbeutung und struktureller Gewalt zu tun, mit undurchsichtigen Strukturen, mit Einflussnahme auf Politik und Verwaltungen und einem Staatsversagen bei der Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte und des Staatsziels Tierschutz.

Es gibt mehr als nur ein paar wenige Verantwortliche für die Misere in der Fleischindustrie, aber vor allem verantwortlich ist das System des globalen Handels mit Fleisch und Fleischwaren.

Beim Schweinefleisch hatte Deutschland im letzten Jahr einen Selbstversorgungsgrad von 120%, wie das Landwirtschaftsministerium stolz vermeldet. Während der Verbrauch im Inland kontinuierlich abnimmt, nimmt der Import von Schweinen und der Export von Schweinefleisch mehr oder weniger kontinuierlich zu. Und auf dem Weltmarkt zählt vor allem der Preis. Deutschland ist weltweit das drittgrößte Exportland für Schweinefleisch, nach den USA und Spanien, mit 4,4 Milliarden Euro Umsatz 2019. Auch deswegen geht übrigens der Vorschlag der Grünen, Fleisch einfach ein bisschen teurer zu machen, völlig an der Sache vorbei. Wenn das Fleisch für die Verbraucher*innen in Deutschland teurer wird, führt das eher zu noch mehr Exportorientierung der Unternehmen und es führt auch nicht automatisch dazu, dass die Tiere und die Menschen besser behandelt werden. Dafür braucht es Gesetze, aber vor allem auch Kontrollen, damit die Gesetze eingehalten werden.

Wer von euch weiß, wie viel ein Kilo Schweinefleisch an der Börse aktuell wert ist?

Gestern waren es ziemlich genau 95 Cent. Wenn man also mit einer Sau, die etwa 80 kg Fleisch gibt, nicht zu viel Verlust machen will, darf sie von der Geburt über die Mast bis zur Schlachtung nicht mehr als vielleicht 70 Euro kosten.

Um ein Kilo Schweinefleisch für 95 Cent zu produzieren, muss man an ziemlich vielen Stellschrauben drehen. Man muss die Schweine in zu engen, schmutzigen und schlecht belüfteten Ställen halten. Man darf nicht zu sehr darauf achten, dass sie artgerecht behandelt werden. Man muss ihnen Antibiotika und Masthilfsmittel ins Futter mischen, damit sie möglichst schnell wachsen und sich in den engen Ställen keine Seuchen ausbreiten. Und: Man muss die Arbeitskraft so billig wie möglich einkaufen.

Es gibt viele Mittel, den Preis der Arbeit zu drücken, und nur eins davon sind die Werkverträge, die jetzt endlich zumindest für die Fleischindustrie verboten werden sollen. Aber wir alle kennen weitere Methoden und Mittel, um den Arbeiter*innen aus Osteuropa, aus Ungarn, Polen, Rumänien oder Bulgarien, ihren gerechten Lohn vorzuenthalten und sie nach Strich und Faden auszubeuten.

Wenn man die Werkverträge verbietet, muss man gleichzeitig sachgrundlose Befristungen verbieten, denn die ewigen Befristungen halten die Menschen in Angst und machen sie erpressbar. Außerdem gibt die Befristung den Unternehmen die Möglichkeit, in großem Umfang Sozialabgaben einzusparen, indem man die Leute immer nur für ein Vierteljahr beschäftigt und danach auswechselt. Ich sage: Sozialversicherungsbeiträge sind Lohnbestandteile und gehören ab der ersten Arbeitsstunde für alle Beschäftigten gezahlt! Im übrigen hat der Chef des Lobbyverbandes der Fleischindustrie recht, wenn er darauf hinweist, dass die Ausbeutung durch Werkverträge nicht nur in seiner Branche boomt, sondern zum Beispiel auch bei Amazon und bei den Paketdiensten. Ich könnte noch die Bauwirtschaft, die Landwirtschaft oder Billigflieger wie Ryanair hinzufügen. Es wäre jetzt also die Gelegenheit, dieser Form der Ausbeutung für alle Bereiche der Wirtschaft die gesetzliche Grundlage zu entziehen, aber davon ist bei dieser Bundesregierung keine Rede.

Beliebt ist auch der Trick mit der Arbeitszeit: Da sind zum Beispiel Arbeitsverträge, nach denen die Menschen nur 20 Wochenstunden arbeiten sollen. Gleichzeitig erwartet das Unternehmen jedoch die Bereitschaft zu unbegrenzten Überstunden - natürlich unbezahlt. Ich höre immer wieder von Menschen, dass sie regelmäßig etwa 60 Wochenstunden arbeiten müssen, aber viel weniger bezahlt bekommen. Wenn die Betroffenen sich wehren, verlieren sie ihren Job. Das ist Erpressung und einer modernen Industriegesellschaft unwürdig! Wir brauchen eine fälschungssichere elektronische Arbeitszeiterfassung UND mehr Personal in der Zollverwaltung, um regelmäßige Kontrollen zu ermöglichen, und das nicht nur in der Fleischindustrie!

Dann gibt es Methoden, die Menschen daran zu hindern, bei Krankheit zuhause zu bleiben. Wenn etwa verlangt wird, dass man sich mindestens eineinhalb Stunden vor Schichtbeginn krank zu melden hat und ansonsten der Lohn für den Tag einbehalten wird, ist das zumindest für die Frühschicht gar nicht umsetzbar. Natürlich ist so etwas illegal, aber wer riskiert schon, seinen Job zu verlieren, wegen eines Tageslohns? Also gehen die Menschen häufig auch krank zur Arbeit.

Infektionskrankheiten wie COVID19 haben hier ein leichtes Spiel. Aber sie verbreiten sich nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in den Wohnungen. Denn die Wohnungen sind eine weitere Quelle der Ausbeutung. Wuchermieten für Schrottimmobilien, die auf dem freien Markt unvermietbar wären, häufig undurchschaubare Eigentümerstrukturen, die es schwer machen, Verantwortliche für die unzumutbaren Bedingungen und den Wucher dingfest zu machen - auch hier bräuchten wir dringend mehr Kontrollen und eine Obergrenze für die Unterbringungskosten. Die Kommunen stecken hier oft in der Zwickmühle, wenn sie aufgrund gesundheitsgefährdender Bedingungen eine Vermietung eigentlich untersagen müssten, aber keine alternativen Unterbringungsmöglichkeiten haben. Wir haben schlicht und ergreifend zu wenig bezahlbaren Wohnraum für alle und daran muss dringend etwas geändert werden! Deswegen brauchen wir mehr öffentlich geförderte Wohnungen, aber wir brauchen eben auch wieder mehr Wohnraum in öffentlicher Hand!

Am Ende will ich noch einen Gedanken anfügen, der mir in der ganzen Diskussion wichtig ist: Das Ganze Lohnsklavensystem, also die Nutzung von Leiharbeit, Werkverträgen und Befristungen, um die Arbeiter*innen billig und willig zu halten, das schadet nicht nur den osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen, sondern auch denen, die eine Festanstellung haben. Denn auch denen kann ja immer damit gedroht werden, sie durch billigere und rechtlosere EU-Bürger*innen zu ersetzen. Und dass die Arbeits- und Wohnbedingungen der ausländischen Kolleg*innen auch für alle anderen ein Gesundheitsrisiko bedeuten, das haben wir hier ja jetzt gesehen.

Es ist also wichtiger denn je, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Jeder hier macht gute Arbeit und hat das Recht auf Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit erhalten und Luft zum Leben lassen. Also weg mit Werkverträgen, Leiharbeit und Befristungen, gute Arbeit für alle und ein Systemwechsel für mehr Tierschutz.

Mehr Kontrollen durch besser ausgestattete Behörden, höhere Bußgelder und Strafen bei Verstößen gegen Arbeitsrechte und Tierschutz - all das ist notwendig, um das Gewaltsystem des globalen Fleischmarkts zu zerschlagen.