Liebe Leserin, lieber Leser,
das Ergebnis der Europawahl bietet wenig Anlass zu Begeisterung. Der Rechtsruck hat sich europaweit fortgesetzt, meine eigene Partei, Die Linke, ist noch zu angeschlagen, um ein gutes Ergebnis zu erringen. Und auch diesmal war die Wahlbeteiligung stark mit der sozialen Lage verknüpft. Unser Spitzenkandidat, Martin Schirdewan, sagt immer wieder: „Wer Europa will, muss es den Reichen und Konzernen nehmen.“ Recht hat er, aber dafür müssen wir wieder stärker werden, denn sonst macht es ja niemand.
Der Begriff „links“ ist in diesem Land inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden. Wenn selbst die pragmatisch-konservative Ewigkeitskanzlerin Angela Merkel oder Sahra Wagenknecht mit ihrem zentralistischen-autoritären Parteimodell von Medien und Politikwissenschaftler:innen als „links“ bezeichnet werden, wie sollen sich Menschen, die nicht den ganzen Tag über Politik nachdenken, dann noch im politischen Koordinatensystem zurechtfinden? Und so kommt es dann, dass am Ende nicht nur die Begriffe verschwimmen, sondern auch das Verständnis verloren geht, dass Politik immer Interessenvertretung ist. Um herauszufinden, wo Parteien stehen, muss man schauen, wessen Interessen vertreten werden, welche Forderungen aufgestellt werden und welche Strategien zur Durchsetzung dieser Interessen und Forderungen angewendet werden. Und es lohnt sich, hinter die Schlagworte zu schauen, mit denen die Parteien Wahlkampf machen.
Nehmen wir den Begriff „Frieden“. Alle Parteien außer CDU und CSU werben für sich mit dem Schlagwort Frieden. Für die FDP mit der „Eurofighterin“ Strack-Zimmermann an der Spitze ist der Weg zum Frieden allerdings mit Lenkwaffensystemen und Mörsergranaten gepflastert. Bei der AfD müsste es eher heißen „Frieden mit Russland und eine maximale Aufrüstung“. Die SPD-Spitzenkandidatin dachte neulich kurz mal öffentlich darüber nach, ob man nach der US-Präsidentschaftswahl vielleicht eine EU-Atombombenmacht brauchen würde. Frieden? Und die Grünen? Ach, lassen wir das doch lieber. In der DDR gab es im Kalten Krieg die Parole „der Frieden muss bewaffnet sein“, und die westdeutsche CDU sammelte gar Unterschriften unter dem Motto „Frieden schaffen mit NATO-Waffen“. Da sind wir wieder.
Dass die Anhäufung von Waffenarsenalen nicht nur eine Reaktion auf internationale Spannungen ist, sondern diese umgekehrt auch verschärft, scheint ein derart komplexer Gedanke zu sein, dass man ihn dem einfachen Wahlvolk nicht mehr zumuten möchte. Andererseits beschwert man sich dann wieder, dass derart geistig unterforderte Wähler:innen besonders gerne populistischen Irrsinn konsumieren und sich in dem Irrtum hingeben, die Wahl von rechtsextremen oder sozial-konservativen Parteien sei die richtige Antwort in einer krisengeschüttelten Welt.
Ich finde ja, die Parteien müssen die Wähler:innen ernster nehmen. Da schließe ich meine eigene nicht aus. Das heißt nicht, ihnen nach dem Mund zu reden, sondern in einen ernsthaften, dauerhaften und wertschätzenden Dialog mit ihnen einzutreten – nicht auf Social-Media-Kanälen, sondern vor allem in dem, was man heute „real life“ nennt.
Nach fast 14 Jahren Bundestag kann ich die Abscheu, die viele Menschen schon beim Gedanken an „die Politik“ befällt, gut verstehen. Man beobachtet doch, wie sogar Leute, die hoch motiviert, kreativ und engagiert in ihr Mandat gestartet sind, schon nach kurzer Zeit abgehoben, angepasst, aufgebraucht oder resigniert und zynisch erscheinen. Und man sieht andere, die von Anfang an Politikunternehmer:innen mit eigenem Business-Plan zu sein scheinen und wenig mit normalen Menschen zu tun haben. Mir fehlt allerdings die Idee, wie man Politik verändern kann, wenn man sich da komplett heraushält. Und verändert werden muss sie, wenn sich nicht noch mehr Leute enttäuscht von der Demokratie abwenden sollen. Nach meiner Erfahrung können außerparlamentarische Bewegungen viel erreichen. Aber noch mehr erreichen sie, wenn ihre Anliegen im Parlament aufgegriffen und verstärkt werden. Deswegen ist es großartig zu sehen, wie viele Menschen sich in Bündnissen gegen rechts engagieren, Kundgebungen, Aktionen und Zivilen Ungehorsam vorbereiten und in sozialen Medien über die menschenverachtende Politik der AfD aufklären. Diese Menschen haben es verdient, dass wir Abgeordnete sie nach Kräften unterstützen, und deshalb werde ich mich auch an den Aktionen gegen den AfD-Bundesparteitag Ende Juni in Essen beteiligen. Ich würde mich freuen, viele von euch dort zu treffen, wenn es heißt: keinen Fußbreit einer Partei, in der Faschisten in wichtigen Funktionen sitzen!
Um noch mal zurück auf den Friedenswahlkampf zu kommen: Der Begriff „Frieden“ als solcher beschreibt nicht mehr als ein Gefühl, eine Sehnsucht, ein menschliches Bedürfnis. Der Publizist Carl von Ossietzky, der 1936 an den Folgen einer KZ-Haft starb, schrieb mal in einer Glosse über die seltsamen Verhaltensweisen deutscher Pazifisten: „Der Pazifismus muss politisch werden, und nur politisch.“ Da ist viel dran. Ein Pazifismus, der sich in moralischer Empörung über die Verbrechen des Krieges erschöpft, hat zwar auch seine Berechtigung, allerdings wird er damit keine einzige Waffe verschrotten und keinen einzigen Waffengang verhindern. Politisch zu werden heißt, die Situation nüchtern zu analysieren und daraus eine Strategie zur Erreichung der eigenen Ziele abzuleiten. Im Augenblick fehlt es allen politischen Kräften an beidem: an der Analyse wie auch an der Strategie. Wie kann man einen Krieg beenden, in dem schon so viele Menschen gestorben sind und so viel Infrastruktur vernichtet wurde? Muss man nicht über den konkreten Kriegsschauplatz hinaus auf die gestörten internationalen Beziehungen, die gekündigten Abrüstungsabkommen und das lädierte und instrumentalisierte Völkerrecht schauen? Und wie schaffen wir es, dass der globale Konkurrenzkampf nicht immer wieder neue Schlachtfelder hervorbringt?
Wenn wir nicht in einer Welt leben wollen, in der die Durchsetzung politischer Ziele mit Gewalt zur Norm und die Aushandlung verschiedener Interessen zur Ausnahme wird, brauchen wir jetzt schnell so etwas wie eine internationale Initiative für Völkerrecht, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wenn die Europäische Union sich gemeinsam mit den Ländern des globalen Südens dafür einsetzen würde, gäbe es sogar die Chance auf Umsetzung. Wenn, ja wenn nicht die Interessen der europäischen Rüstungsindustrie schwerer wiegen als das Interesse der Bevölkerung. Auch hier bleibt richtig: „Wer Europa will, muss es den Reichen und Konzernen nehmen!“
Ein herzliches Glückauf! Eure Kathrin
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