Liebe Leserin, lieber Leser,
was auch immer ihr über Politik bisher zu wissen glaubtet: vergesst es. Es ist alles noch viel schlimmer. Ich halte ja die parlamentarische Demokratie nicht unbedingt für die beste, aber doch wenigstens für die aktuell am wenigsten schlechte Form der politischen Entscheidungsfindung, aber was da derzeit in den Social-Media-Kanälen, in den Bierzelten und in den Talkshows an Wahlkampfauftritten abgeht, das lässt mich nicht nur an der Verantwortungsbereitschaft vieler Gewählter, sondern auch an der Fähigkeit zu kritischem Denken mancher Wählender zweifeln. Wie bringt man Leute dazu, gegen ihre eigenen Interessen abzustimmen? Ganz einfach: man weckt Emotionen, am besten gegen diejenigen, die sich nicht wehren können. Da behauptet der CDU-Vorsitzende, dass deutsche Patient:innen keine Termine beim Zahnarzt bekommen, weil sich dort Geflüchtete „die Zähne machen ließen“ und ein FDP-Chef fordert, ihnen kein Geld mehr, sondern nur Sachleistungen oder ominöse „Bezahlkarten“ zu geben, weil die angeblich zu üppigen Sozialleistungen zu viele in unser schönes Land locken würden. Das sind wohlgemerkt dieselben Leute, die immer dann bösen „Sozialneid“ wittern, wenn wir höhere Steuern für Multimillionäre und Milliardäre fordern oder die unanständigen Kriegs- und Krisengewinne der Energie- und Rüstungskonzerne abschöpfen wollen. Es ist wieder so weit: Politiker:innen, die ohne mit der Wimper zu zucken Haushaltsposten für BAFöG, Gesundheit, Pflege, Integration und Arbeitsförderung kürzen, liefern den Bürger:innen gleich die Schuldigen für diese Grausamkeiten mit: die Ausländer:innen, die Migranten:innen, die Geflüchteten. Nicht der Kahlschlag bei der sozialen Wohnraumförderung ist schuld, wenn die Mieten ins Unendliche steigen, sondern die Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Naturkatastrophen fliehen mussten, um ihr nacktes Leben zu retten. Nicht die Zwei-Klassen-Medizin, Privatisierung und Profitorientierung im Gesundheitswesen sind schuld, wenn gesetzlich Versicherte um Facharzttermine betteln müssen, sondern die syrische Krankenschwester, die als Asylbewerberin zunächst gar nicht arbeiten darf und dann putzen gehen muss, weil ihr Diplom nicht anerkannt wird. Und was machen SPD und Grüne? Zwar empören sie sich lautstark über die verbalen Entgleisungen, aber klammheimlich verschieben sie selbst die Agenda nach rechts und weichen rechtsstaatliche und menschenrechtliche Standards für Geflüchtete in der EU auf: Mit der EU-Krisenverordnung und dem Gemeinsamen Asylsystem GEAS, mit der Ausweitung sogenannter „sicherer Herkunftsstaaten“ und mit der Kürzung von Leistungen für Integrationsberatung und Unterbringung, was dann wiederum die Kommunen an den Rand der Aufnahmebereitschaft bringt.
Aktuell ist es Kanzler Scholz, der sich zum Gefallen der postfaschistischen italienischen Ministerpräsidentin Meloni von der finanziellen Unterstützung der privaten Seenotrettung distanziert, die der Bundestag mit der Mehrheit aller demokratischen Fraktionen beschlossen hatte. Seenotrettung, um das noch mal zu sagen, ist eine völkerrechtliche Verpflichtung, kein Verbrechen!
Ich bin froh um jeden, der sich diesem verhängnisvollen Diskurs widersetzt. Mein ganzer Respekt gilt Leuten wie Karl Josef Laumann, dem CDU-Mann aus Riesenbeck, der an dieser Stelle die passenden Worte fand: Die Leute kämen ja nicht aus „Jux und Dollerei“. Richtig so! Das individuelle Recht auf Asyl ist auch eine Konsequenz aus dem deutschen Faschismus, den mehr politisch Verfolgte, mehr jüdische Menschen und mehr Sinti und Roma überlebt hätten, wenn sie die Chance bekommen hätten, in anderen Ländern Zuflucht zu erhalten. Es zu verteidigen, mit Zähnen und Klauen, sollte daher jedem Demokraten und jeder Demokratin Herzensanliegen sein. Gerade in einer Zeit, in der europaweit rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch sind, könnten alle, die an Menschenrechten und Demokratie festhalten, irgendwann in die Lage kommen, selbst aus ihrer Heimat fliehen zu müssen.
Das heißt nicht, dass man Probleme mit der Aufnahme, Versorgung und Integration der geflüchteten Menschen ignorieren sollte. Im Gegenteil: Wir sollten sie lösen. Und dafür brauchen wir eine Politik, die den Bürgerinnen und Bürgern die Sicherheit gibt, dass sie nicht ins Bergfreie fallen, auch nicht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Eine Politik, die Reichtum besteuert, um Armut zu bekämpfen, die Mieten begrenzt und für gute Bildung für alle Kinder sorgt.
Wir brauchen Investitionen in die soziale Infrastruktur, in die Kommunen und in den klimagerechten Umbau der Wirtschaft. All dies drängt und darf nicht der unbegrenzten Aufrüstung geopfert werden.
Wenn wir unsere Demokratie erhalten wollen, dann müssen wir jetzt umsteuern. Umverteilung von oben nach unten wäre mal eine ganz neue Idee. Klingt ungewöhnlich, ist aber machbar.
Zum Glück gibt es eine Partei, die sich dieses Thema ganz oben auf die To-Do-Liste geschrieben hat. Zum Unglück ist sie gerade nicht stark genug, um ausreichend Druck zu machen. Aber auch das kann und muss geändert werden: Wir brauchen eine Linke, die sich nicht klein macht, sondern die selbstbewusst sagt: Ein solidarisches Land und ein sicheres Leben für alle ist machbar, Herr und Frau Nachbar! Wir haben die Verantwortung, in einer hart nach rechts treibenden Gesellschaft einen starken Gegenpol zu bilden. Oder wie Tucholsky sagte: „Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: NEIN!“
Bleibt stabil und mutig!
Eure Kathrin
|