Liebe Leserin, lieber Leser,
was soll ich sagen: Der Krieg ist zurück in Europa. Die russischen Truppen sind auf dem Weg in Richtung Westukraine, um Kiew wird geschossen. Ich muss gestehen: Auch ich habe die Vorzeichen falsch gedeutet. Noch einen Tag vor der Putin-Rede, in der er die Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk verkündete und der gesamten Ukraine die Existenzberechtigung abstritt, habe ich einen besorgten Freund per Messenger beruhigt: „Putin macht Theaterdonner, um seine Verhandlungsbasis zu verbessern.“ Im Nachhinein stellt sich das „Theater“ als sorgsam geplante Inszenierung dar, die genau auf den Punkt zulief, einen Einmarsch in der Ukraine vorzubereiten und zu rechtfertigen. Ja, die NATO ist in diesem Konflikt nicht unschuldig. Aber diesmal war es die russische Regierung, die das Völkerrecht gebrochen und sich damit vollständig ins Unrecht gesetzt hat.
Aber geht es überhaupt um die Ukraine? Ich befürchte, es geht um viel, viel mehr. 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs erleben wir eine militärische Neuaufteilung von Macht- und Einflusssphären zwischen den USA (plus EU), China und Russland. Und wir in Europa haben halt den geografischen Schwarzen Peter gezogen. Wie es weitergeht? Seit Tagen verfolge ich die Nachrichten, die Berichte im Internet und spüre die tiefe Verunsicherung vieler Menschen, denen es geht wie mir: Mit Sorge habe ich in den letzten Jahren die verbale und reale Aufrüstung beobachtet und trotzdem gehofft, dass niemand mehr mit Panzern und Haubitzen Grenzen in Europa verschiebt.
Die Hoffnung hat getrogen. Was aber bleibt, ist die tiefe Überzeugung, dass der Krieg, jeder Krieg ein Verbrechen an der Menschheit ist. Wenn wir die Geißel des Krieges nicht überwinden, werden wir unsere Zukunft auf diesem Planeten nicht sichern können. Als die Pandemie begann, hatte ich kurz gedacht, dass diese globale Katastrophe zusammen mit dem drohenden Kippen des Klimas aufrütteln und zur Kooperation zwingen könnte. Wir müssen aufhören, die Schätze der Erde und den Erfindungsgeist der Menschen an Tod und Verderben zu verschwenden. Wir brauchen den ganzen Reichtum und unsere vereinigte Intelligenz, um diesen kleinen blauen Planeten als Lebensraum für uns zu erhalten. Wenn jetzt um die letzten Ressourcen, Handelswege und Märkte gekämpft wird, verlieren wir alle, zumindest alle, die nicht über die Machtinstrumente verfügen, sich in diesem Kampf zu behaupten.
Die Ukraine ist nicht der Anfang. Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Armenien/Aserbaidschan, Georgien – überall hier waren nicht die Interessen und Bedürfnisse der Menschen im Fokus, sondern die von Groß- und Mittelmächten. Nirgends ging es um Menschenrechte oder Demokratie, sondern um Märkte, Rohstoffe, Handelswege. Inzwischen geht es immer häufiger auch um Land für die Agroindustrie und Investitionsmöglichkeiten für eine völlig aus dem Ruder gelaufene Finanzwirtschaft. Das Ganze wird begleitet von einem nationalistischen Trommelfeuer auf die Gehirne der Menschen, von Feindbildkonstruktionen und Kriegspropaganda. Viele trauen keinen Nachrichten, keinen Politiker*innen mehr, weil sie schon zu oft erlebt haben, wie Kriegsgründe herbeigelogen wurden. In solch einer Situation finde ich es immer wieder hilfreich, sich mit den Grundsätzen der Kriegspropaganda vertraut zu machen, die stets ähnlichen Mustern folgen. Eine Übersicht findet ihr hier.
Auch, wenn wir alle besorgt oder sogar verängstigt sind, müssen wir uns klar machen, dass Angst uns handlungsunfähig machen kann. Dabei erfordern gefährliche Zeiten, dass wir unsere Handlungsoptionen genau analysieren und uns nicht von der Angst in Verhaltensweisen treiben lassen, die am Ende die Gefahr noch vergrößern. Was uns in diesem Moment Hoffnung geben kann, sind kluge Beiträge wie der des kenianischen Botschafters im Weltsicherheitsrat, der dem russischen Expansionismus das Beispiel Afrikas entgegenstellte, eines Kontinents, in dem kein einziges Land seine Grenzen selbst bestimmen konnte und wo diese fast immer Menschen trennen, die sich als ein Volk verstehen und dieselbe Sprache sprechen. Er machte deutlich, dass es keine Legitimation dafür gibt, solche Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Vielleicht sollten wir Afrika als den entwickelten Kontinent bezeichnen.
Hoffnung geben auch die mutigen Menschen auf beiden Seiten der Kampflinien, die sich dem Krieg entgegenstellen. Heute waren in russischen Städten Zehntausende auf den Straßen. Und auch in der Ukraine melden sich Pazifist*innen zu Wort gegen den Krieg. Ihnen gehören unsere Unterstützung und Solidarität, denn es gibt nichts Gefährlicheres, als mitten im Krieg dem Morden zu widersprechen. Mord? Sagte ich Mord? Das wusste schon Cyprian von Karthago im 3. Jahrhundert:
„Der Mord ist ein Verbrechen, wenn ein einzelner ihn begeht; aber man ehrt ihn als Tugend und Tapferkeit, wenn ihn viele begehen! Also nicht mehr Unschuld sichert Straflosigkeit zu, sondern die Größe des Verbrechens!“.
Um wieviel mehr gilt das im 21. Jahrhundert, in dem die mächtigsten Menschen der Welt über die Mittel verfügen, die Menschheit zurück in die Steinzeit zu bomben?
Wir müssen diesen Mächtigen die gefährlichen Mittel aus der Hand nehmen und ihnen die Macht entziehen, etwas so zutiefst irrationales und menschenfeindliches wie einen Krieg zu beginnen.
Ich wünsche uns allen dafür Kraft, Mut und Gelassenheit – auch in diesen Zeiten.
Mit solidarischen Grüßen
Eure Kathrin
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