Liebe Leserin, lieber Leser,
turbulente Wochen liegen seit dem letzten Newsletter hinter mir. Im Bundestag wurde diese Woche nicht nur der Bundeshaushalt für 2023 verabschiedet, sondern auch ein Kompromiss zwischen Bundesrat und Bundestag zum sogenannten „Bürgergeld“, der der ohnehin nicht besonders mutigen Sozialreform noch die letzten Zähne gezogen hat. Die Debatte darüber bestimmte vor allem die CDU/CSU mit einer perfiden Kampagne gegen Langzeiterwerbslose und arme Menschen. Die Sanktionen, also die Kürzung von Leistungen im Hartz-IV-System müssten bleiben, denn sonst lägen die Arbeitslosen ja nur auf der faulen Haut, so tönte es. Und die mickrige Erhöhung der Regelsätze um 53 Euro sei denjenigen nicht zu vermitteln, die trotz Arbeit nur über Einkommen knapp oberhalb dieses kleingerechneten Existenzminimums verfügten. Die einzige Partei, die in den Debatten immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Hartz IV und dem Niedriglohnsektor hinwies, war DIE LINKE.
Dabei ist es ganz einfach: Je schikanöser, demütigender und autoritärer der Zugang zu Sozialleistungen gestaltet wird, umso eher sind Beschäftigte bereit, jede noch so schlechte Bezahlung und jede noch so miese Arbeitsbedingung zu akzeptieren, um zu vermeiden, dass sie in dieses System fallen und umso weniger sind sie in der Lage, sich gewerkschaftlich zu organisieren und durch Auseinandersetzungen mit der Kapitalseite bessere Bedingungen zu erkämpfen.
Dass eine Million Hartz-IV-Beziehende gar nicht arbeitslos sind, sondern erwerbstätig, fiel ebenso unter den Tisch wie die Tatsache, dass sehr viele von ihnen sehr wohl arbeiten, dafür aber eben nicht entlohnt werden, etwa als Alleinerziehende oder als pflegende Angehörige.
Am Ende musste die Ampel vor der Union einknicken, um wenigstens die 53 Euro monatlich zu retten, die aber längst nicht einmal die rasanten Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Strom ausgleichen. Das „Bürgergeld“ ist also wie Hartz IV weiterhin Armut per Gesetz und ständige Drohung mit Kürzungen bis weit unters Existenzminimum. In einer neuen Umfrage haben sogar 58% der Linken-Wähler*innen angegeben, dass sie die Verschärfung bei den Sanktionen gut finden. Da sieht man, wie erfolgreich die Propaganda von den angeblich faulen Hartz-IV-Beziehenden gewesen ist.
Die Solidarität der Menschen untereinander schwindet halt in Zeiten, wo selbst Menschen mit durchschnittlichem Einkommen nicht mehr sicher sein können, am Ende des Monats noch Geld auf dem Konto zu haben. Dabei wäre gerade jetzt eine auskömmliche Grundsicherung nützlich, weil sie durch mehr Binnennachfrage dafür sorgen könnte, Arbeitsplätze zu erhalten oder neue zu schaffen.
Ich glaube, wir müssen sehr viel mehr reden. Miteinander, aber auch mit den Menschen draußen. Ich bin sehr stolz, dass der Landesparteitag der LINKEN mich am 30.10. zur Sprecherin des Landesverbandes gewählt hat. Der Parteitag war schwierig und turbulent, aber wir haben gute Anträge meist einstimmig beschlossen und einen extrem motivierten Landesvorstand gewählt, der deutlich breiter aufgestellt ist, als vorher befürchtet worden war. NRW ist das bevölkerungsreichste und wichtigste Bundesland und ein Spiegel der Bundespolitik. Wenn DIE LINKE langfristig erfolgreich sein will, dürfen wir uns nicht mit wiederholten Niederlagen abfinden, sondern müssen uns neu aufstellen. Gerade in einer tiefen Krise, angesichts von Inflation, Energiearmut, Wohnungsnot und drohender Rezession braucht dieses Land eine Partei, die Vorschläge zur Umverteilung des unverschämten Reichtums macht und die den Menschen wieder Hoffnung gibt, dass bittere Armut und schamloser Reichtum keine Naturgesetze sind, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen auf dem Rücken der Mehrheit.
Wir haben eine Menge Vertrauen verloren. Das liegt auch daran, dass wir zu oft mit zu vielen verschiedenen Stimmen sprechen, so dass am Ende niemand mehr weiß, was denn eigentlich gilt. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, die Konflikte auszuklammern oder zu verschweigen, denn es geht dabei darum, was für eine Partei wir sein wollen und wie wir wieder erfolgreich werden können. Während sich früher die Konflikte vor allem um die Frage drehten, ob und wie wir als LINKE (mit-)regieren sollten, drehen sie sich inzwischen mehr um inhaltliche und strategische Fragen von ganz grundsätzlicher Bedeutung: Welche Vorstellungen von Sozialstaat, ökologischem Umbau und gesellschaftlichem Fortschritt vertreten wir? Was heißt für uns internationale Solidarität? Wie kann Friedenspolitik in Zeiten des Krieges aussehen? Und wie gewinnen wir politisches Profil in unserer Rolle als linke Opposition gegenüber der Ampel-Regierung und einer starken konservativen Opposition? Was bedeutet Klassenorientierung in einer Zeit, in der sich die Lebenswelten der arbeitenden Menschen immer weiter auseinanderentwickeln, wo ist das Verbindende zwischen der klassischen Industriearbeiterschaft und den Beschäftigten im Dienstleistungssektor, in Bildung, Gesundheit oder Kultur?
Wir müssen nicht all diese Fragen sofort beantworten. Aber wir müssen uns ernsthaft um Antworten bemühen, die auch verstanden werden. Ich habe große Lust, daran mitzuarbeiten und freue mich auf die Zusammenarbeit mit allen, die daran interessiert sind.
Solidarische Grüße
Eure Kathrin
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