Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn ihr mich fragt, was mich gerade umtreibt, dann weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich bin jetzt 60 Jahre alt und seit 45 Jahren politisch (nicht immer parteipolitisch) aktiv, aber so viel Retropolitik habe ich noch nie erlebt.
Haben wir allen Ernstes eine Debatte über den Atomausstieg? Genau dieser Atomausstieg, der unter der Union beschlossen wurde und von der Ampel aus guten Gründen nicht rückgängig gemacht wurde? Wir haben sie. Ausgelöst vom konservativen Magazin „Cicero“ mit angeblich brandheißen Unterlagen aus dem Wirtschaftsministerium von 2022, die genauer betrachtet nicht hergeben, was der Cicero daraus machen will.
Und - ganz neu - haben wir jetzt auch einen Veteranentag, der künftig immer am Wochenende nach dem 15. Juni gefeiert werden soll. Dazu schreibt der Kommentator der taz ganz richtig: „Auf nichts Vernünftiges kann sich die rot-grün-gelbe Selbstblockadekoalition mehr einigen. Aber wenn es um die Verherrlichung des deutschen Militärs geht, dann marschieren sie geschlossen, mit der rechts von ihr platzierten Parlamentsopposition an ihrer Seite. Dabei ist es schlicht verlogen, wenn in dem jetzt beschlossenen Antrag heroisch von „gefährlichen Bedingungen, persönlichen Entbehrungen sowie körperlichen und seelischen Härten“ schwadroniert wird, denen die 10 Millionen zu „Veteranen“ erklärten Deutschen mit Soldatenhintergrund allesamt ausgesetzt gewesen wären.“ Und er verweist darauf, dass etwa der „Veteran“ an meiner Seite, der nach dem Abitur aus pragmatischen Gründen nicht den Kriegsdienst verweigerte, höchstens der Härte langweiliger Wachdienste und der Gefahr des Kasernen-Alkoholismus ausgesetzt war, wobei den im tatsächlich gefährlichen Kampfeinsatz verletzten und traumatisierten Soldat:innen nicht etwa ein symbolischer Feiertag hilft, sondern gute Versorgung der erlittenen Verletzungen an Leib und Seele. Letzteres aber kostet Geld und das wird lieber in neue Kriegsvorbereitung gesteckt als in die Nachsorge der Kriegsfolgen.
Dass Die Linke im Bundestag diesem militaristischen Geklimper nicht zugestimmt hat - übrigens als Einzige - macht mich ein bisschen stolz. Die selbsternannte „Friedenspartei“ AfD war natürlich mit gezücktem Bajonett sofort dabei und das ebenfalls mit Friedensparolen werbende BSW hat Debatte und Abstimmung einfach geschwänzt.
Der Veteranentag als solcher ist aber nur der symbolische Tiefpunkt der derzeitigen Entwicklung einer allumfassenden Militarisierung. Bildungswesen, Gesundheitseinrichtungen, Katastrophenschutz und Wissenschaft stehen ganz oben auf der To-Do-Liste der Kriegsvorbereitung. Mit 2,44 Billionen US-Dollar haben die weltweiten Rüstungsausgaben letztes Jahr alle vorherigen Rekordjahre übertroffen, knapp 55% davon entfallen allein auf die NATO-Staaten. Und das ist erst der Anfang. „Eurofighterin“ Strack-Zimmermann von der FDP lässt sich als „Oma Courage“ plakatieren. Kann jemand mal der Dame und ihrem Beraterstab erklären, dass Brechts „Mutter Courage“ eine Geschäftsfrau ist, die vom Krieg lebt und noch, als sie schon ihre Söhne an das Gemetzel verloren hat, sagt: „Ich laß mir von euch den Krieg nicht madig machen“? Ihr Parteivorsitzender und Finanzminister schlägt vor, in den kommenden drei Jahren auf höhere Ausgaben für Soziales zu verzichten, um mehr für den Rüstungshaushalt zu haben. Man würde gerne noch mehr Sanktionen für Menschen im Bürgergeldbezug, die Abschaffung der Rente für langjährig Versicherte (fälschlich „Rente ab 63“ genannt) und natürlich keine Kindergrundsicherung haben. Gleichzeitig soll der Solidaritätszuschlag bei der Steuer, den ohnehin nur noch 3,5% der Steuerzahlenden in voller Höhe bezahlen und 90% überhaupt nicht mehr, abgeschafft werden.
Was hingegen auf keinen Fall abgeschafft werden soll, ist die Zukunftsinvestitionsbremse, meist „Schuldenbremse“ genannt. Wenn eine solche Partei, die entgegen jeder volkswirtschaftlichen Erkenntnis, unser Land durch weitere Prekarisierung und Privatisierung an die Wand fahren möchte, dann im Zusammenhang mit dem Atomausstieg von „Ideologie“ quatscht, muss man sich schon Sorgen um die intellektuellen Fähigkeiten dieser Führungskräfte machen.
Was bitte ist denn eine Finanzpolitik, die der Umverteilung von unten nach oben und der Handlungsunfähigkeit von Bund, Ländern und Kommunen nicht nur nichts entgegensetzt, sondern sie auch noch forciert, weil sie der Ideologie folgt, dass der Markt schon alles fein regeln wird?
Ach, was reg‘ ich mich wieder auf? Weiß doch jede:r, dass die FDP eine Partei vom und für das Großkapital ist und sich nicht für die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala interessiert. Aber dass SPD und Grüne sich ständig hinter ihrem kleinsten Koalitionspartner verstecken, um zu erklären, dass sie da halt nichts machen können, das ist einfach peinlich und natürlich ein Grund sich aufzuregen.
Hoffentlich bleiben sie wenigstens beim Atomausstieg stabil. Denn die Kosten für eine Renaissance der Atomkraft müssten ebenso wie die der Entsorgung die Bürger:innen tragen, ebenso wie die Risiken für die Umwelt und das ungelöste Problem der strahlenden Abfälle. Es gibt Diskussionen, die sollte man nicht immer wieder führen.
Ansonsten, neben all dem Ärger und den Aufregern wünsche ich euch einen kämpferischen und sonnigen ersten Mai. Falls ihr zufällig in Duisburg seid, kommt doch bei der Linken vorbei, dann sehen wir uns dort!
Mit solidarischen Grüßen Eure Kathrin
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