Liebe Leserin, lieber Leser,
im Augenblick ist ja nichts so mega-hip wie auf all jenen herumzuhacken, die Diskriminierungserfahrungen benennen und versuchen, alltägliche und strukturelle Diskriminierungen zu überwinden. Es ist ermüdend. Dass man als Mensch mit einer halbwegs gelungenen Kinderstube respektiert, dass eine unverheiratete Frau kein Fräulein ist, hat sich ja inzwischen herumgesprochen. Allein dafür hat es jahrzehntelange Debatten gebraucht und ohne die Frauenbewegung und Geschlechterquoten in einigen Parteien wären wir vermutlich noch immer nicht so weit. Auch, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten selbst von der Fachöffentlichkeit nicht mehr als "Idioten" bezeichnet werden, hat sich noch gar nicht so lange durchgesetzt. Wir haben uns daran gewöhnt, weil wir verstanden haben, dass diese Bezeichnungen abwertend und diskriminierend sind.
Ja, man kann die Besessenheit mancher Studierendenzirkel bekloppt finden, mit der an der Sprache herumgedoktert wird, um Minderheiten sichtbar zu machen oder nicht mehr abzuwerten, aber mit welcher Vehemenz sich manche*r Privilegierte über diese Bemühungen ereifert, lässt schon Zweifel aufkommen, ob wir denn gar keine anderen Probleme haben?
Die viel gescholtene "Identitätspolitik" ist für Menschen, die durch ihre Geschlechtszuschreibung, ihre (hetero-)sexuelle Orientierung, ihre Nicht-Behinderung , ihre ethnische oder soziale Herkunft im Vorteil sind, scheinbar eine Bedrohung, weil sie sichtbar macht, wie viele blinde Flecken es in unserer sich so offen und liberal gebenden Gesellschaft immer noch gibt. Sie ist aber für diejenigen, die alltäglich unter vielfältigen Benachteiligungen leiden, lebensnotwendig, denn sie ermöglicht es ihnen, ihre eigenen Bedürfnisse nach Respekt, Anerkennung und Gleichwertigkeit zum Ausdruck zu bringen. Und da ist der Kampf um die Sprache die kleinste Herausforderung. Klar: Wenn jemand mit dunkler Hautfarbe 30 mal mehr bei Wohnungsbesichtigungen abgewiesen wird als ein Hellhäutiger mit demselben Beruf und demselben Einkommen, dann ist das ungleich diskriminierender, als wenn ich nicht weiß, wie ich ihn jetzt gerade politisch korrekt nennen soll, ihm aber die gewünschte Wohnung vermiete. Dass eine Muslima mit Kopftuch sehr viel bessere Zeugnisse braucht, um eine Lehrstelle zu finden, als eine junge Frau ohne dieses Merkmal, dass Firmen lieber Ablass bezahlen, als Menschen mit Behinderungen einzustellen, dass Kinder mit Migrationshintergrund deutlich seltener eine Gymnasialempfehlung bekommen und deutlich häufiger auf der Sonderschule landen und dass junge Männer, die irgendwie "südländisch" aussehen, ständig anlasslos ihren Ausweis zeigen müssen - all das sind Benachteiligungen, deren psychologische Auswirkung kaum jemand nachvollziehen kann, der sie nicht erlitten hat.
Die politische Elite nennt die eben genannte "Sonderschule" inzwischen "Förderschule", damit nicht mehr deutlich wird, dass dort Kinder mit Behinderungen ausgesondert werden. Sie nennt Müllplätze "Recyclinghöfe", auch wenn ein Großteil der Abfälle nicht recycelt, sondern verbrannt oder exportiert werden. Industriegebiete heißen politisch korrekt "Gewerbeparks" und Gefängnisse "Justizvollzugsanstalten". Die Medien haben diese Begriffe unhinterfragt übernommen. Man will sich aber nicht daran gewöhnen, das "Zigeunerschnitzel" in "Paprikaschnitzel" umzutaufen und damit wenigstens auf der Speisekarte zu signalisieren, dass Menschen nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Sinti und Roma beleidigt werden dürfen? Das darf doch nicht wahr sein!
Ich gebe zu, ich weiß auch nicht immer, wer gerade wie genannt werden will. Ich bin halt eine alte, heterosexuelle cis-Kartoffel (=nicht jung, nicht lesbisch, nicht trans, nicht migrantisch). Aber ich bin bereit, mir die Wünsche der Betroffenen anzuhören und zu versuchen, sie umzusetzen. Meine Diskriminierungserfahrungen beschränken sich auf "weiblich" und "arm". Und auch, wenn letzteres inzwischen nicht mehr zutrifft, ist das persönlich die Erfahrung gewesen, die meine Identität bis heute prägt. Ich koche vor Wut, wenn finanziell benachteiligte Menschen als "sozial schwach" abgewertet werden. Das ist eine vergiftete Sprache, die ich nicht akzeptieren kann und ich lasse mir nicht erzählen, dass es unzumutbar sei, sich hier ein bisschen umzugewöhnen. Ich bin Sozialistin und Feministin, weil ich eine Gesellschaft schaffen möchte, in der jeder Mensch gleich viel bedeutet und das gleiche Recht auf Respekt, Beachtung und Beteiligung hat. Ich weiß, dass auch Menschen, die im Leben ganz andere Erfahrungen gemacht haben, mit mir für dieses Ziel kämpfen. Und wenn für sie wichtig ist, dass ich mich in einer bestimmten Weise ausdrücke, damit sie sich in ihren verschiedenen Identitäten anerkannt und respektiert fühlen, dann bemühe ich mich und mache mich nicht darüber lustig oder führe spitzfindige Debatten darüber, ob das von einer ordentlichen Klassenpolitik ablenkt, die Gesellschaft spaltet oder die deutsche Sprache verhunzt. Aber ich möchte schon darauf hinweisen, dass Sprache nur ein Abbild ist und dass der Recyclinghof immer noch zumindest teilweise ein Müllplatz bleibt. Im übertragenen Sinn: Wenn Intellektuelle, Politiker*innen und Medienschaffende zwar nicht diskriminierend sprechen, aber nichts gegen die strukturellen Diskriminierungen unternehmen, dann ist das nichts als weiße Salbe. Und das merken die Menschen.
Am 8. März ist Internationaler Frauentag. An diesem Tag streiten wir seit über 100 Jahren für gleiche Rechte, gleichen Lohn und gleiche Teilhabe an der Macht. Und noch immer sind "Frauenberufe" unterbezahlt und leisten Frauen jeden Tag 87 Minuten mehr unbezahlte Haus- und Pflegearbeit als Männer. Dafür besitzen sie durchschnittlich 23% weniger Vermögen - was Konsequenzen für die Alterssicherung hat. Altersarmut ist überwiegend weiblich. Und alles hängt mit allem zusammen. Ja, ich bin froh, dass niemand mehr meine erwachsene Tochter ein "Fräulein" nennt. Aber reichen darf uns das nicht! Mädels* und Jungs*, Sterne und Sonnen: Seien wir wild und unverschämt, verlangen wir, was uns zusteht! Respekt, Wertschätzung und - verdammt nochmal - angemessene Bezahlung für Arbeit an und mit Menschen! Wir wollen Applaus, Blumen, Schokolade UND eine Rente, die zum Leben reicht. Wir wollen Zeit für unsere Lieben, für Kultur, Leben, Demokratie UND Karriere. Das muss man doch mal sagen dürfen! Einen kämpferischen Frauentag wünscht euch
Eure Kathrin
|