Liebe Leserin, lieber Leser,
so viel ist in den letzten Wochen passiert, dass ich kaum weiß, mit welchem Thema ich diesen Newsletter beginnen soll: Syrien, EU-Grenze, Thüringen, Ramstein oder Defender2020? All das ist wichtig, brennend und doch auch schon so viel diskutiert.
Ein Thema jedoch liegt mir besonders am und auf dem Herzen: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum §217 Strafgesetzbuch, mit dem der Bundestag die geschäftsmäßige Förderung des Suizids unter Strafe gestellt hatte. Ich war zur Urteilsverkündung nicht in Karlsruhe, allerdings war ich schon seit der Anhörung vor einem Jahr wenig zuversichtlich. Das Gesetz, das der Bundestag nach zweieinhalb Jahren intensiver Beratungen, vielen Fachgesprächen und ausführlichen Anhörungen mit überraschend großer Mehrheit beschlossen hat, hat der Verfassungsgerichtshof nicht nur kassiert, sondern den Gesetzgeber zugleich vor unlösbare Aufgaben gestellt. Die Richter*innen konstruieren nicht nur ein individuelles Recht auf Suizidhilfe "in allen Lebenslagen", das meiner Ansicht nach jede Suizidprävention auf den Kopf stellt und das Agieren der fragwürdigen selbsternannten "Sterbehelfer" auf eine Weise heiligspricht, dass sich mir alle Zehennägel aufrollen. Dieses Recht sollen wir nun sicherstellen, dabei aber das berechtigte Anliegen des Schutzes vor Manipulation des freien Willens berücksichtigen.
Die Ausführungen der vielen kompetenten Sachverständigen, die in der Anhörung etwa schilderten, welche unkontrollierbaren Auswirkungen die offene Werbung für Selbsttötungen auf das gesellschaftliche Klima und insbesondere auf die Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen in Krisensituationen hat, fanden kein Gehör. Stattdessen überzeugten wohl die Ausführungen unter anderem eines Mediziners, der ausführlich seinen persönlichen Lustgewinn beschrieb, den er aus der Begleitung von Sterbewilligen in den Tod empfindet.
In der letzten Konsequenz muss man befürchten, dass von solchen Richter*innen auch das Verbot der Tötung auf Verlangen in §216 des Strafgesetzbuchs, nicht auf Dauer Bestand haben wird.
Warum ist das für mich skandalös?
Wenn die Gesellschaft das "sozialverträgliche Frühableben" zur Norm macht und zum Ausdruck höchster Selbstbestimmung und Würdewahrung erklärt, wird der Druck besonders auf alte, kranke, pflegebedürftige und behinderte Menschen zunehmen, sich selbst, der Gesellschaft und den Angehörigen nicht länger zur Last fallen zu wollen. Besonders unter Druck stehen werden jene, die sich aufgrund ihrer finanziellen Situation und der unzureichenden Leistungen der Pflegekassen zurecht davor fürchten, notwendige Pflegeleistungen nicht zu erhalten oder deswegen Sozialhilfe beantragen zu müssen.
Wer im Augenblick beobachtet, wie intelligente, selbstbestimmte und überwiegend rational denkende Menschen, beim Anblick von Einkaufskörben voller Desinfektionsmittel plötzlich selbst mit dem Hamstern beginnen, kann nicht davon ausgehen, dass sich jede und jeder einer solchen gesellschaftlichen Norm entziehen kann. Wir sehen das in den Nachbarländern Belgien und den Niederlanden, wo der Suizid nach zunächst streng regulierter Freigabe von "Sterbehilfe" auf immer mehr Menschen ausgeweitet wurde und inzwischen schon Kinder oder Strafgefangene "selbstbestimmt" in den Tod "begleitet" werden.
Für mich ist das individualisierte und von sozialen Bedingungen abgelöste Verständnis von Selbstbestimmung und Menschenwürde, das die Richter*innen hier dokumentieren und das auch in den Medienkommentaren immer mehr Raum einnimmt, ein Beispiel für eine abgehobene gesellschaftliche Elite, die sich von der Alltagsrealität breiter Bevölkerungsschichten entfernt hat und für die nicht soziale Verbundenheit, sondern Selbstkontrolle und Selbstoptimierung der entscheidende Ausdruck der Menschenwürde ist.
In der Folge kann sich der Staat noch weiter seiner Verpflichtung entziehen, die Bedingungen für ein gutes Leben bei und trotz Krankheit, Behinderung oder Alter für alle Menschen zu schaffen. Es gibt ja den "Exit", den Notausgang, auf den die Menschen hingewiesen werden können.
Ich bin nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Deswegen werde ich gemeinsam mit Abgeordneten anderer Fraktionen nach ausführlicher Auswertung des Urteils darüber nachdenken, was wir tun können, um dieser verhängnisvollen Tendenz entgegenzutreten. Aufgeben gibt’s nicht!
Mit solidarischen Grüßen
Eure Kathrin
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