Hunderttausende ohne Krankenversicherungsschutz

– (k)ein Thema für die Bundesregierung

Im Juni 2015 wohnte Kathrin Vogler auf Einladung des WDR eine Woche lang in einer Politiker-WG in Duisburg-Marxloh, die sich vor Ort um soziale Probleme kümmern sollte. Unter anderem ging es um etwa 10.000 Menschen allein in Duisburg, die keine Krankenversicherung haben.

Marxloh – ein Spezialfall?

Marxloh ist in der Tat ein Spezialfall, doch finden sich landauf landab zumindest teilweise vergleichbare Zustände. Marxloh ist ein traditionsreicher Arbeiterstadtteil in Duisburg, in dem der "Strukturwandel" gescheitert ist. Für die jungen Menschen gibt es kaum Arbeit, deswegen ziehen sie fort, viele Wohnhäuser sind in einem sehr schlechten Zustand. Die Bevölkerung muss auf Unterstützung durch Behörden zumeist ewig warten, von der Polizeigewerkschaft wurde Marxloh als No-Go-Area bezeichnet. Zwei Drittel der EinwohnerInnen haben einen Migrationshintergrund, viele mit türkischen und arabischen Wurzeln. Die Merkez-Moschee ist die größte und sicher auch schönste Moschee Deutschlands und in der berühmten "Hochzeitsmeile" gibt es alles, was für eine richtig große Hochzeit benötigt wird.

Es sind aber vor allem Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, also EU-BürgerInnen, die oft zu viert auf 17 Quadratmetern leben und dafür noch 250 Euro zahlen müssen. Viele gehören der Minderheit der Roma an, sie werden in ihren Herkunftsländern diskriminiert und schikaniert. Als einzige Gesundheitsversorgung steht vielen die ehrenamtliche Gesundheitssprechstunde in der katholischen Kirchengemeinde zur Verfügung, denn einen Krankenversicherungsschutz haben nur wenige. Für wie viele der insgesamt 637.000 rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen, die laut Ausländerzentralregister Ende August 2015 in ganz Deutschland leben, solche katastrophalen Lebensbedingungen gelten, ist nicht bekannt, aber Marxloh ist kein Einzelfall sondern nur die Spitze eines Eisbergs.

Viele der aus Südosteuropa Zugewanderten haben rechtlich kaum Anspruch auf Zugang zum Sozialsystem. Nur wer dauerhaft einen sozialversicherungspflichtigen Job findet, kommt in die gesetzliche Krankenversicherung. Denn Arbeitsuchende aus der EU erhalten zunächst weder Arbeitslosengeld noch ALG II. Damit entfällt für sie auch dieser Zugangsweg zur Pflichtversicherung in Deutschland.

Als Selbstständige und geringfügig Beschäftigte könnten sich u.U. freiwillig versichern. Doch da bestehen zwei unübersteigbare Hürden: Einerseits die hohen Mindestbeiträge und andererseits der notwendige Nachweis entsprechender Vorversicherungszeiten im Heimatland.

Entgegen einem oft vorgebrachten Vorurteil ist selbst das Kindergeld keine sichere Einnahmequelle für die Familien, da allein die Bewilligung bis zu einem Jahr dauert. Wohngeld erhalten sie ebenfalls nicht.

Auch freiwillige Versicherung in GKV oder PKV oft nicht möglich

Oft scheitert schon der Nachweis der Vorversicherungszeiten in einer gesetzlichen Krankenversicherung im Herkunftsland. Die Krankenkassen sind nicht verpflichtet, dieses Formular selbst in Rumänien anzufordern. Tun sie dies doch, dann dauert es oft viele Monate (und das in Zeiten des globalen Datenaustauschs). Meist sind die Betroffenen gezwungen, extra nach Rumänien oder Bulgarien zu reisen. In vielen Fällen bleibt der Nachweis am Ende ungeklärt.

Damit bleibt übrigens auch der Zugang zur PKV versperrt, da auch die privaten Versicherungsunternehmen nur diejenigen Nichtversicherten aufnehmen müssen, die dem Prinzip nach der PKV zuzurechnen sind. Hier entstehen also die gleichen Probleme, die schon bei der GKV eine Aufnahme in ein Versicherungsverhältnis be- bzw. verhindert haben können. Zudem sind die Beiträge in der PKV gerade bei älteren oder vorerkrankten Menschen noch höher und damit unbezahlbar für Menschen mit geringem Einkommen. Daraus entsteht oft ein Teufelskreis: Keine Arbeit - keine Sozialversicherung - keine Krankenkasse - keine Arbeit.

Ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 3. Dezember 2015 könnte für zumindest für diejenigen EU-BürgerInnen, deren Aufenthalt als „verfestigt“ gilt, Verbesserungen bringen: Es bestünde zwar kein ALG II-Anspruch (der ja auch einen Krankenversicherungsschutz mit sich bringt), aber zumindest Anspruch auf Sozialhilfe (und so auch Zugang zu den „Hilfen zur Gesundheit“ nach SGB XII). Als Folge der sozialen Ausgrenzung fehlen ihnen jedoch Information über ihre Rechte und erst recht die notwendige Unterstützung bei deren Durchsetzung. Aber auch aus Scham und Angst werden oftmals selbst bestehende Ansprüche nicht geltend gemacht.

Weitere Personengruppen ohne (ausreichende) Krankenversicherung

Noch aus der Zeit vor der Versicherungspflicht gibt es viele Nichtversicherte, die sich trotz des Gesetzes zum Erlass von Säumniszuschlägen und Altschulden nicht versichern ließen. Denn insbesondere für Selbständige mit kleinen Einkommen liegt der Mindestbeitrag viel zu hoch. Das WidO stellte Mitte Januar 2016 eine Studie vor, der zufolge die nahezu 600.000 Selbstständigen mit durchschnittlichen Einkommen von 10.000 Euro pro Jahr für die gesetzliche Krankenkasse 46,5 Prozent ihrer Einkünfte aufbringen müssen. Für diesen Personenkreis ist eine Absicherung für den Krankheitsfall in Deutschland zum Luxusgut geworden.

Eine weitere Gruppe, deren Gesundheitsversorgung besorgniserregend schlecht ist, stellen die vielen Obdachlosen dar, die zumeist aus Scham, Unkenntnis oder anderen Gründen einen theoretisch existierenden Anspruch auf Krankenversicherung nicht wahrnehmen.

Dazu kommt eine unbekannte Anzahl von „Sans Papiers“, Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland oder diejenigen, die sich ausreisepflichtig ohne Asylantrag in Deutschland aufhalten.

Darüber hinaus haben mehrere hunderttausend Personen nur einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Hierzu zählen zum Beispiel AsylbewerberInnen und Menschen, deren Ansprüche auf Leistungen im Krankheitsfall auf das gleiche Niveau abgesenkt wurden, nämlich Versicherte mit Beitragsschulden sowie Privatversicherte im so genannten Notlagentarif.

Die Bundesregierung beteuert zwar immer, dass über das Asylbewerberleistungsgesetz eine ausreichende Gesundheitsversorgung bestünde, doch die Fallbeispiele, die der Flüchtlingsrat in seiner Stellungnahme zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes 2014 zusammengetragen hat, sprechen eine andere Sprache: Zu Recht wird die Leistungsbeschränkung auf akut schmerzhafte und lebensbedrohliche Erkrankungen und die Behördenwillkür bei der Genehmigung als inhuman gegeißelt. Sie widerspricht auch dem Menschenrecht auf den höchstmöglichen Gesundheitszustand.

Bundesregierung verschließt die Augen

Direkt im Anschluss an meinen Aufenthalt in Duisburg-Marxloh bat ich die Bundesregierung um einen Bericht zu dieser Problematik: Wie viele Nicht-Versicherte gibt es in Deutschland, welche Personengruppen gehören dazu und was will die Bundesregierung unternehmen?

Die Antwort war enttäuschend: Statt aktueller Zahlen lieferte die Bundesregierung vor allem alte Kamellen und Eigenlob. Mit den Gesetzen zur Versicherungspflicht in GKV und PKV, dann mit dem Schuldenerlass für Säumniszuschläge und Altbeiträge sowie mit dem Notlagentarif für Privatversicherte sei die Zahl der Nichtversicherten reduziert worden.

In ihrer Antwort, die dann auch medial Verbreitung fand, erklärt Staatssekretärin Fischbach, es seien bundesweit nur rund 77.500 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz. Wie kommt sie auf diese Zahl? Ganz einfach, sie macht eine ganz kleine Rechnung auf: Man nehme die Zahl aus dem Mikrozensus 2011 (137.000 Menschen ohne Krankenversicherung), ziehe die 55.000 vorher Nichtversicherten ab, die durch gesetzliche Anreize neu in die GKV kamen, ebenso die 4.500 neu in die PKV Eingetretenen, dann bleiben eben nur noch 77.500 Menschen ohne Krankenversicherung übrig (nachzulesen unter: https://www.bundestag.de/presse/hib/2015_07/-/381116).

Die Bundesregierung täuscht damit nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch sich selbst, und so wurde Angela Merkel bei ihrem Besuch in Marxloh im Spätsommer 2015 von engagierten Bewohnern des Stadtteils vor laufenden Kameras mit der harten Realität konfrontiert.

Mikrozensus-Zahlen sind nicht aussagekräftig - Viele Personengruppen unterrepräsentiert

Es ist bekannt, dass die Zahlen des Mikrozensus gerade bei diesen Fragen nicht verlässlich sein können. Zum einen, weil beim Mikrozensus nicht nach einem Zufallsprinzip einzelne Personen ausgesucht werden, sondern Wohnungen. So hat der Single in einem Loft in Düsseldorf die gleiche Chance befragt zu werden wie einer von 14 Rumänen, die in Doppelstockbetten in einem Abbruchhaus in Marxloh in einer einzigen Wohnung wohnen; Obdachlose und Menschen ohne Papiere werden sowieso nicht erfasst.

Zum anderen tendieren Befragte stets dazu, sozial erwünschte Angaben zu machen, insbesondere wenn sie gegen ein Gesetz (hier die gesetzliche Versicherungspflicht) verstoßen. Beide Faktoren führen dazu, dass das Problem Nichtversicherter massiv unterschätzt wird.

Ich habe darum im Herbst 2015 nachgehakt, doch wieder erhielt ich von der Bundesregierung die Antwort: „Belastbare Anhaltspunkte für eine Fehleinschätzung der Anzahl der Personen ohne Versicherungsschutz in Deutschland auf Basis der zur Verfügung stehenden Daten werden nicht gesehen.“ Man kann sich auch blind stellen…

Was tun?

  • DIE LINKE fordert, dass die Einschränkungen bei den Gesundheitsleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz fallen müssen. Allen Menschen ist eine umfassende Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Das gilt selbstverständlich auch für diejenigen, die ihre Beiträge nicht bezahlen konnten.
  • In einem Antrag auf Bundestags-Drucksache 18/7413 fordert DIE LINKE, die medizinische Versorgung für Geflüchtete und Asylsuchende diskriminierungsfrei zu sichern. Wir wollen auch diese Personen in die Versicherungspflicht (nach § 5 Abs. 1 SGB V) aufnehmen. Damit wäre der volle Leistungsumfang gesichert.
  • Übergangsweise soll an alle eine Gesundheitskarte ausgegeben und die Einschränkung auf Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzustände ersatzlos gestrichen werden.
  • Für freiwillig Versicherte muss der Mindestbeitrag umgehend deutlich abgesenkt werden. DIE LINKE will mit einer als BürgerInnenversicherung ausgeformten solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung Beitragsgerechtigkeit herstellen. Alle Versicherten sollen den gleichen Prozentsatz auf alle Einkommen zahlen, ohne Ober- oder Untergrenze. Wer wenig hat, zahlt wenig – wer mehr hat, zahlt mehr. Dann wird niemand überfordert.
  • ArbeitsmigrantInnen aus Südost-Europa benötigen dringend Integration und soziale Teilhabe, verbunden mit Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen, damit sie überhaupt ihre sozialrechtlichen Möglichkeiten erfahren und Hilfe bei deren Inanspruchnahme erhalten. Gerade Kommunen wie Duisburg, mit vielen Zuwanderern aus diesen Ländern, müssten daran ein Interesse haben.
  • In der EU müssen die Bedingungen für ArbeitsmigrantInnen dringend verbessert werden. Viele Menschen aus unseren EU-Partnerländern leben inzwischen hier ohne jede soziale Absicherung. Das macht sie auf dem Arbeitsmarkt erpressbar: Selbst 12-Stunden-Schichten auf dem Schlachthof an sechs Tagen in der Woche werden angenommen, nur um überhaupt Arbeit zu haben. Als Dauerproblem bedroht dies den Gedanken der europäischen Einigung mehr als ein vorübergehender Zuzug von Kriegsflüchtlingen oder eine Bankenkrise. Deswegen dürfen wir das nicht hinnehmen.