Liebe Leserin, lieber Leser
als im vergangenen Jahr die türkische Armee gemeinsam mit islamistischen Milizen den syrisch-kurdischen Kanton und die Stadt Afrin überfiel und Zehntausende vertrieb, hatte das keinerlei Konsequenzen. Die Bundesregierung genehmigte weiter fleißig Rüstungslieferungen an den NATO-Partner, die türkischen Soldaten in Incirlik durften weiter mit US-amerikanischen Atombomben die Massenvernichtung trainieren, der UN-Sicherheitsrat konnte sich nicht auf eine Verurteilung oder gar Strafmaßnahmen und die EU dachte gar nicht daran, den unsäglichen Flüchtlingsdeal mit Erdogan zu kündigen. Der jetzige Überfall auf Rojava und die Errichtung einer Besatzungszone, die Vertreibung der YPG und YPJ aus diesem 30km tiefen Streifen und der Erdogan-Plan zur ethnischen Säuberung des Gebiets sind schon damals vorbereitet und geplant worden. Die einzige noch zu erfüllende Bedingung für ihre Realisierung war der Abzug der US-Truppen, den Präsident Trump ebenfalls schon häufiger angekündigt hatte. Alle, die überrascht taten, müssen sich den Vorwurf der Heuchelei, zumindest aber der Blauäugigkeit gefallen lassen.
Die minimalinvasiven Sanktionen der Europäischen Union werden ohne Wirkung auf den Kalifen vom Bosporus bleiben, solange alle bereits genehmigten Rüstungslieferungen problemlos weiter laufen und man neue Lieferungen so lange in die Zeit schieben kann, bis die vergessliche Öffentlichkeit ihre Empörung wieder einem anderen Kriegsschauplatz zugewandt hat. Und der US-Präsident macht im eigentlichen Sinn keine Außenpolitik, fraglich ist, ob er überhaupt Politik in dem Sinne macht, in dem ich es verstehe. Das Konzept „Amerika zuerst“ duldet keine Rücksichtnahme auf Bündnispartner. Zur Loyalität scheint dieser US-Präsident ebenso wenig fähig zu sein wie zur Empathie, ganz gleich ob er es mit vermeintlichen Freunden oder Gegnern zu tun hat.
Dass sich die Kurden in ihrer Verzweiflung an Assad gewandt haben, mit dem sie zumindest das gemeinsame Interesse daran verbindet, Syrien nicht in einen Flickenteppich unterschiedlicher Besatzungszonen zu verwandeln, ist nachvollziehbar, ebenso, wie es verständlich ist, dass sie sich im Kampf gegen die IS-Mörderbanden mit den USA verbündeten. Nun müssen sie erkennen, dass sie in dieser Welt keine dauerhaften Verbündeten haben. Keine? Doch, die Mehrheit der Herzen schlägt für den tapferen Verteidigungskampf der YPG und der YPJ und für den mutigen Versuch, ein basisdemokratisches, multiethnisches und multireligiöses Gemeinwesen im Nordosten Syriens zu schaffen.
Gerade dieser Versuch aber ist es, der alle Staatenlenker in der Region und in den Zentren des globalen Kapitalismus in eine natürliche Distanz zur Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien bringt. Eine Gemeinschaft, die ihre Belange selbst regelt, unabhängig vom Staat, auf dessen Gebiet sie lebt? Eine Quasi-Autonomie für die Kurden? Das ist eine Horrorvorstellung für nicht nur für Erdogan, sondern auch für die syrische und die iranische Regierung. Dazu kommt die Frage, wer das Öl kontrolliert - und die beantwortet Donald Trump selbstverständlich NICHT mit Truppenabzug sondern mit Truppenverstärkung an den Ölquellen im Osten Syriens.
Seit 2014 ist Syrien ein Spielball der Interessen ausländischer Mächte. Die USA, der Iran, Rusland, die Türkei, Israel und Saudi-Arabien, sie alle agieren im Land und drum herum mit so genannten „Proxys“, Milizen, die auf der Lohnliste der einen oder anderen Macht stehen und bei denen die eigene ökonomische Existenz von der Fortsetzung des dauernden Kriegszustands abhängt. Solche Proxys setzt Erdogan auch gerade in Rojava ein. Jetzt hat er erklärt, sein Umvolkungsplan für die „Sicherheitszone“ sei doch eigentlich auch im Interesse der Kurden, denn schließlich sei das Wüstenland und dort könnten Araber viel besser leben als Kurden.
Wenn ein Staatsoberhaupt erklärt, eine bestimmte Bevölkerung gehöre nicht auf ihr angestammtes Heimatland, dann müssten alle Alarmglocken bei der UNO, im UN-Menschenrechtsrat und in anderen Institutionen des Völker- und Menschenrechts klingeln. So kündigt man Massenvertreibungen und Genozide an.
Wenn Außenminister Maas jetzt nach Ankara fährt, hat er hoffentlich ein paar klare Ansagen im Gepäck. Dass die Bundesregierung in der EU ein echtes Waffenembargo gegen die Türkei verhindert hat und außer der LINKEN bisher niemand die Kündigung des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens in die Debatte gebracht hat, lässt auch dafür wieder nichts Gutes hoffen. Stattdessen schwadroniert Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer über eine UN-mandatierte „Sicherheitszone“ unter Beteiligung der Bundeswehr. Was für ein Hohn! Schon das Wort zeigt, wie weit sich die CDU-Vorsitzende die Kriegslüge von den angeblich berechtigten „türkischen Sicherheitsinteressen“ zu eigen macht, die den völkerrechtswidrigen Einmarsch legitimieren soll. Sollen jetzt also Bundeswehrsoldaten die ethnische Säuberung von Teilen Kurdistans und die Zwangsansiedlung syrisch-arabischer Flüchtlinge unterstützen? Dazu fällt mir eigentlich nur noch Max Liebermann ein: „Ick kann janischt soviel fressen, wie ick kotzen möchte“.
Jeder Soldat, von dem solches verlangt würde, dürfte diesen rechtswidrigen und unmoralischen Befehl nicht erfüllen. Vielleicht ist es an der Zeit für eine neue Verweigerungskampagne!
Ich wünsche euch trotz alledem eine anregende Lektüre und viel Kraft für die anstehenden Kämpfe.
Mit sala‘m und shalom
Eure Kathrin
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