Ausschussreise: Das kubanische Gesundheitssystem

Auf Anregung der LINKSFRAKTION reiste eine Delegation des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages nach Kuba und in die USA. Dabei informierten sich die Abgeordneten über die Gesundheitssysteme der beiden Länder. Kathrin Vogler hielt ihre Eindrücke in Form eines Reiseberichts fest:

Auf Anregung der LINKSFRAKTION reiste eine Delegation des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages nach Kuba und in die USA. Dabei informierten sich die Abgeordneten über die Gesundheitssysteme der beiden Länder. Ihre Eindrücke über den kubanischen Teil der Reise hielt Kathrin Vogler in Form eines ersten Reiseberichts fest (Bericht zum USA Aufenthalt folgt):  

Vom 1.-4. Mai war ich mit einer Delegation des Gesundheitsausschusses in Kuba. Die Besichtigung des kubanischen Gesundheitswesens hatte unsere Fraktion schon seit Jahren immer wieder vorgeschlagen, doch erst mussten Obama und die Stones nach Havanna reisen, bevor die anderen Fraktionen bereit waren, sich dieser Erfahrung zu öffnen.

Wie es sich gehört, trafen wir zuerst KollegInnen aus dem Gesundheitsausschuss der kubanischen Nationalversammlung: den Vorsitzenden Jorge Gonzálo, seinen Vertreter Fernando Hierro und die Sekretärin des Ausschusses, María Rubio - alle drei MedizinerInnen von Beruf. Kubanische Abgeordnete üben ihr Mandat als Ehrenamt neben dem Beruf aus, weniger als 12 Millionen KubanerInnen werden von 600 Abgeordneten repräsentiert. Wir lernten dabei, dass sie nicht ihre Partei vertreten, sondern jeweils zur Hälfte in den Wahlkreisen direkt gewählt und zur anderen Hälfte von der Regierung ernannt werden - als RepräsentantInnen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. 48% der Abgeordneten sind Frauen. In Kuba gibt es keinen Wahlkampf mit Plakaten oder Werbespots im Fernsehen, sondern jede Kandidatin und jeder Kandidat erhält den Platz auf einem DIN A4-Blatt um sich vorzustellen, diese Blätter werden dann im Wahllokal ausgehängt. Wahlversprechen sind verboten.

Wir wurden darauf hingewiesen, dass sich trotz der vorsichtigen politischen Öffnung der USA gegenüber Kuba die "aggressive Wirtschafts- und Finanzblockade" weiter fortgesetzt wird und unter anderem im Gesundheitswesen deutliche Spuren hinterlässt. So fehle es Kuba etwa vielfach an moderner Medizintechnik und speziellen Medikamenten, etwa gegen Krebs. Firmen, die auch in die USA liefern, können de facto nicht nach Kuba liefern. Auf der anderen Seite gibt es einen organisierten Brain-Drain, die USA bieten etwa Ärztinnen und Ärzten eine ungehinderte Einreise, eine sofortige Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.

Dennoch sei Kuba an guten Beziehungen zu Washington interessiert, die Hauptziele seien das Ende der Blockade, die Rückgabe von Guantanamo und die Beendigung der Aggressionen gegen Kuba.

Das Gesundheitswesen ist wohl einer der großen Erfolge der kubanischen Revolution. Gab es nach der Revolution gerade 3.000 ÄrztInnen, so sind es heute über 70.000, die die Menschen kostenfrei behandeln und als medizinische BotschafterInnen weltweit im Einsatz sind. Von den 889 häufig verwendeten "Basismedikamenten" werden heute 589 im Land selbst produziert. Die Schwierigkeiten durch die Blockade haben auch eigene Kräfte freigesetzt: Inzwischen gibt es eine erfolgreiche Forschung für hochkomplexe Medikamente im Land. Wir besuchten das CIM, das Zentrum für molekulare Immunologie, ein Teilstandort von "Biocubafarma". Dort arbeiten die ForscherInnen überwiegend an Immun- und Krebstherapien, denn Tumore gehören auch auf Kuba zu den häufigsten Todesursachen. Das Ziel der Forschung ist es, hochwirksame und bezahlbare Medikamente zu entwickeln und damit den Zugang für alle, auch für arme Menschen, zu ermöglichen. So wurde etwa ein Medikament gegen Speiseröhrenkrebs entwickelt, das das Tumorwachstum nicht nur stoppte, sondern die Tumoren zum Schrumpfen brachte. Ein Mittel gegen Lungenkrebs bringt für bestimmte Patienten eine Verdoppelung der Lebenserwartung. Jetzt arbeiten die ForscherInnen an einem vielversprechenden Mittel gegen Hirntumore. Dabei haben sie allerdings das Problem, dass Kuba allein zu klein ist, um aussagekräftige Studien zur Wirksamkeit und Verträglichkeit durchzuführen. Deswegen suchen sie nach internationalen Kooperationspartnern. Was entwickelt wird, entscheidet letzten Endes das Gesundheitsministerium im Rahmen des Planungsverfahrens. Die entscheidenden Kriterien sind die Verbreitung und die Schwere von Krankheiten. Die Medikamente werden auch exportiert, die Erlöse daraus fließen dann wieder ins kubanische Gesundheitswesen. Das 2012 gegründete Kombinat "Biocubafarma" hat inzwischen etwa 3 Milliarden US $ an Exporten eingespart und 700 Millionen erwirtschaftet.

Dass diese Mittel dringend nötig und längst nicht ausreichend sind, davon konnten wir uns beim Besuch einer Familienärztin und einer Poliklinik überzeugen. Das kubanische Gesundheitswesen besteht aus drei Ebenen: der örtlichen Familienarztpraxis, der Poliklinik und den großen Spezialkliniken. Die Familienärztin hat ihre Praxis und ihre Wohnung direkt in einem Viertel, in dem etwa 1000 Menschen leben. Für diese Menschen ist sie die erste Ansprechpartnerin in Sachen Gesundheit und Vorsorge. Sie besucht alle Familien regelmäßig, auch Gesunde erhalten jährlich einen Hausbesuch. Dabei beurteilt sie auch die Lebenssituation auf mögliche Gesundheitsgefahren hin: Wie ist die Wohnung? Gibt es vielleicht Ungeziefer? Wie ist die Ernährungssituation? Sind die sozialen Beziehungen in der Familie intakt? Gibt es Risikofaktoren wie Rauchen oder Alkohol? Sind alle geimpft? Sie berät und untersucht und überweist kranke Menschen bei Bedarf in die Poliklinik. Auch dort spielt Prävention und Rehabilitation eine große Rolle. Großartige Technik haben wir nicht gesehen: Ein Beratungszimmer, eine Untersuchungsliege, einen Edelstahltisch für kleinere Operationen und gynäkologische Untersuchungen, einen Bewegungsraum, der eher an den Kraftraum einer Jugendherberge erinnert. Der Einzugsbereich der Poliklinik "19. April" umfasst 25 Familienarztpraxen, also etwa 25.000 EinwohnerInnen. Dort gibt es eine 24-Stunden-Notaufnahme, wer länger als sechs Stunden behandelt werden muss, wird aber ins Krankenhaus überwiesen. Was mich positiv überrascht hat war die Offenheit, mit der uns auch über Probleme berichtet wurde. So müssen die PatientInnen in den Krankenhäusern jemanden mitbringen, der sich um sie kümmert und die Pflegekräfte entlastet, auch das Essen bringen die Verwandten mit, Bettwäsche sowieso. Dass auch in Kuba die Familien kleiner werden und auseinanderbrechen, stellt das Gesundheitswesen vor große Probleme. Und im Bereich der Altenpflege besteht dringender Handlungsbedarf. Dort gibt es bislang keine tragfähigen Strukturen. Wir besuchten auch eine Einrichtung für 120 Menschen mit Pflegebedarf. Bei aller Mühe, die sich die MitarbeiterInnen dort geben, ist die Menge an Arbeit für sie nicht zu bewältigen. Die BewohnerInnen sind zum größten Teil hochbetagt, viele sind bettlägerig, aber es mangelt an nahezu allem. Für mich war es erschütternd zu sehen, wie diese Menschen dort vegetieren. Pflegekräfte sind kaum zu bekommen, denn sie verdienen umgerechnet nur 25 Dollar im Monat. So viel kann man aber in der Tourismusindustrie bei etwas Glück in zwei Tagen verdienen.

Bei Cáritas Cubana erfuhren wir nicht nur etwas über die Verbesserungen im Verhältnis zwischen der kommunistischen Partei und der katholischen Kirche, sondern auch etwas über die kirchlichen Projekte speziell für ältere Menschen. Aus der Erfahrung, dass es wenig Angebote außerhalb der Familien gibt, hat Cáritas lokale Projekte gegründet, in denen ältere Menschen ihre Tage gemeinsam gestalten. Auch hier wird viel auf das Ehrenamt gesetzt, so dass die, die noch fit sind, diejenigen unterstützen, die Beeinträchtigungen haben. Ihre Angebote sieht die Cáritas als Ergänzung zum Staat, das Ziel sei es, dass die Menschen so lange wie möglich zuhause leben können. Das ist natürlich auch deshalb so wichtig, weil stationäre Einrichtungen der Altenhilfe fehlen oder in keinem menschenwürdigen Zustand sind. Viele Misshandlungen alter Menschen könnten vermieden werden, wenn die Ausbildung der Pflegenden besser würde. Aktuell seien der Staat und die Gesellschaft mit den Herausforderungen der Alterung ganz einfach überfordert.

Auch für ÄrztInnen ist der Anreiz groß ist, das Land zu verlassen oder den Beruf aufzugeben, angesichts eines monatlichen Einkommens von 50 $. Mancher steht morgens im OP, um am Abend noch Taxi zu fahren. Für besonders FachärztInnen aus den Krankenhäusern hat Kuba die Lockerungen bei den Ausreisegenehmigungen inzwischen wieder zurückgenommen, als zu riskant wird die Gefahr gesehen, sie an das Ausland zu verlieren. An einem einzigen Wochenende, so erfuhren wir, haben mehrere Anästhesisten und ein Kinderherzchirurg das Land verlassen - ein Verlust, der für die PatientInnen tödlich enden kann.

Die stellvertretende Gesundheitsministerin Dr. Marcía Cobas berichtete, dass Menschen für das kleine und arme Kuba die wichtigste Ressource seien. Eine Ressource mit der einerseits Solidarität geübt wird und andererseits auch Geld verdient werden kann. Schon immer waren kubanische ÄrztInnen und Pflegekräfte auch im Auslandseinsatz, überwiegend in den ärmsten Ländern oder in medizinischen Notfällen, wie etwa bei Erdbeben, Hochwasserkatastrophen oder jüngst in Westafrika gegen Ebola. Nach und nach kamen wohlhabendere Länder dazu und seit 2010 gibt es eine offizielle Strategie des Exports von Gesundheitsdienstleistungen. Aktuell sind KubanerInnen in 67 Ländern im Einsatz, die Hälfte dieser Länder bezahlt dafür, darunter sind reiche Ölstaaten wie Quatar, Kuwait und Saudi-Arabien, aber auch Portugal, Brasilien oder Südafrika. Gleichzeitig bildet Kuba auch ausländische MedizinerInnen aus - aktuell etwa 14.000 - teilweise kostenlos, teilweise aber auch gegen Devisen. Zum Abschluss besuchten wir noch ein Leuchtturmprojekt dieser Ausbildung, die lateinamerikanische Hochschule für Medizin, ELAM. Diese Hochschule wurde 1999 gegründet, zunächst um MedizinerInnen für die lateinamerikanischen Länder und dort speziell für die Versorgung der armen Bevölkerung auszubilden. Inzwischen erhalten dort 2870 Studierende aus 82 Ländern eine ganzheitliche Medizinausbildung. Neben den klassischen medizinischen Fächern werden sie auch in Sport, Kultur, Ethik und Geschichte der Medizin, Sozialwissenschaften sowie in Spanisch und Englisch unterrichtet. Man wolle keine Fachidioten heranbilden, sondern einen ganzheitlichen Ansatz der Medizin vermitteln, so berichtete und der Direktor Dr. António López. Die Prüfungen seien streng und die Ausbildungsanforderungen hoch, aber 70-80% der Studierenden schließen ihr Studium erfolgreich ab. Auch in den USA  gibt es inzwischen eine Organisation, die jungen Menschen aus armen Familien aus der afroamerikanischen und der Latino-Community die Ausbildung in Havanna ermöglicht. Spätestens hier wurde ganz deutlich erfahrbar, warum das kleine Kuba in vielen Gegenden der Welt hohen Respekt genießt. Die Ausbildung an der ELAM ist ein großes Geschenk dieses kleinen Landes an die Welt. Unser Dolmetscher, selbst Arzt, mochte kaum glauben, dass die Studierenden aus seinem Heimatland Guatemala nicht doch aus reichen Familien kommen. Ein Blick auf die Weltkarte, auf der die ELAM alle Herkunftsorte der AbsolventInnen mit roten Punkten markiert, belehrte ihn eines Besseren: "Das sind ja wirklich alles arme Gegenden." Gracias, Cuba!