40 Jahre Krefelder Appell - heute abrüsten und Atomwaffen abschaffen!

Kathrin Vogler ist 1963 geboren und seit 1979 in der Friedensbewegung aktiv. Sie war eine der Gastredner*innen, Zeitzeug*innen, die am 15. November 2020 im Gewerkschaftshaus Frankfurt/M. an den Beginn der Friedensbewegung in den frühen 80er Jahren erinnerten.

Der nachfolgende Text basiert auf Kathrin Voglers Rede im Rahmen der Veranstaltung "40 Jahre Krefelder Appell".

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Für viele in meinem Alter hatte der Krefelder Appell ganz zweifellos eine überragende Bedeutung in der politischen Entwicklung: Für mich zum Beispiel war es das erste Mal, dass ich mit einer Mappe und einem Kugelschreiber von Haus zu Haus gezogen bin und mit den Menschen über Politik gesprochen habe. Ich war 17 und das hat mich ordentlich Überwindung gekostet. Wir hatten damals auch keine Schulungen in "Canvassing" oder "Organizing" oder wie man das heute nennt. Es gab auch keine YouTube-Tutorials unter dem Titel "Wie sammle ich am besten". Nein, wir sind einfach los, zuerst in unserer Nachbarschaft und dann in den anderen Stadtvierteln und haben wildfremde Menschen gebeten, gegen die Atomraketen zu unterschreiben.

Das ist jetzt sehr lange her und die Erinnerung verklärt ja so manches, aber ich erinnere mich noch gut, wie überrascht ich war, wie groß die Bereitschaft zum Unterschreiben war. Und ich war ja nicht in irgendeinem Duisburger Arbeiterbezirk unterwegs, sondern in einer Kleinstadt im Münsterland, in der die CDU damals noch bei über 50% lag und der Pressesprecher des SPD-Ortsvereins zugleich Vorsitzender der Kyffhäuser Kriegerkameradschaft war.

Der Krefelder Appell als verbindendes Kampagnenelement

Das zeigt, dass der Krefelder Appell in all seiner Schlichtheit und Einseitigkeit als verbindendes Kampagnenelement die bestehende Stimmung in der Bevölkerung wunderbar bündeln konnte. Wenn wir mal vernachlässigen, dass etliche Menschen doppelt unterschrieben haben und andererseits wohl heute noch ausgefüllte Listen in Hobbykellern lagern, dann haben etwa 5 - 10% der erwachsenen Bevölkerung in Westdeutschland diese Unterschriftenliste gezeichnet.

Der Krefelder Appell mag zwar aus dem Umfeld der Deutschen Kommunistischen Partei initiiert worden sein, hat aber seine Reichweite vor allem durch die vielen, wie Pilze aus dem Boden sprießenden, lokalen oder berufsbezogenen Friedensgruppen erhalten und durch ganz normale Leute, wie die siebzehnjährige Schülerin Kathrin, die in ihrer Kleinstadt einige Hundert Unterschriften sammelte. Wahlpolitisch oder organisatorisch hat die DKP auch nicht wesentlich von der Massenbewegung profitiert, eher war es umgekehrt: Die Bewegung profitierte von den organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten, die ihr die DKP verschaffen konnte, ließ sich aber durch ihre große politische und gesellschaftliche Breite auch nicht auf den DKP-Kurs verengen. Politisch profitiert haben damals vor allem die Grünen, die auch mit dem Rückenwind aus der Friedensbewegung in dieser Zeit erstmals in die Parlamente einzogen. Dass ihr ursprünglich pazifistisches Programm dann unter Joschka Fischer und Daniel Cohn Bendit ins Gegenteil verkehrt wurde, steht auf einem anderen Blatt, aber es mahnt uns, programmatische Positionen bei Parteien nicht für gottgegeben zu halten.

Der politische Gegenwind gegen den Krefelder Appell war allerdings auch hart. Ich erinnere mich, wie auf dem Bundeskongress der DFG-VK 1981 in Bergen-Enkheim erbittert gestritten wurde, ob man nicht doch lieber unter den Russel Peace Aufruf Unterschriften sammeln sollte. Im Nachhinein erscheint es verrückt, wie überhaupt jemand auf die Idee kommen konnte, der zwei eng bedruckte Seiten lange Aufruf aus Nottingham könnte ebenso viel, vielleicht auch mehr Mobilisierung erreichen, als das schlanke Produkt aus Krefeld, aber es ging ja eher um die ideologische Frage, wie viel Einseitigkeit gegen die NATO-Raketen sich die westdeutsche Friedensbewegung leisten wollte. Die SPD initiierte einen eigenen "Bielefelder Appell", welcher sang- und klanglos in der Versenkung verschwand und heute nicht einmal mehr mit einer Suchmaschine zu finden ist.

Angst und Hoffnung - zwei Treiber für außerparlamentarische Bewegungen

Ich glaube nicht, dass diejenigen, die am 15. und 16. November 1980 in Krefeld zusammensaßen, schon genau wussten, welches Potenzial die von ihnen dort verabredete Erklärung hatte. Sie kam halt genau zur richtigen Zeit, um zwei gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen:

Einerseits hatten viele Menschen Angst vor einem Atomkrieg in Europa. Die verbalen Zuspitzungen im Kalten Krieg und die atomare Aufrüstung machten einen Krieg wahrscheinlicher. Und die NATO-Planungen, Atomkrieg führen und auch gewinnen zu können, erhöhten ebenso die Kriegsgefahr und trieben ein gnadenloses, teures Wettrüsten an. Diese Entwicklung stand im Widerspruch zur Politik der Entspannung, friedlichen Koexistenz, Abrüstung und Rüstungskontrolle, welche die Regierung unter dem außerordentlich populären Kanzler Willy Brandt verfolgt hatte und die vielen Menschen in Ost und West die Hoffnung auf eine Überwindung der Konfrontation und ein friedliches Zusammenleben gegeben hatte. Angst auf der einen Seite und Hoffnung auf der anderen, das sind die zwei entscheidenden Treiber für außerparlamentarische Bewegungen.

Wir sehen das heute etwa an Fridays for Future, einer Bewegung, die sowohl von der Angst vor einem ungebremsten Fortschreiten der Erderwärmung gespeist wird, als auch von der Hoffnung, dass die Politiker*innen zum Handeln gedrängt werden können, dass es zwar spät, aber noch nicht zu spät ist, um durch entschlossenes Handeln das Schlimmste abzuwenden.

Und auch die Aktivist*innen von Fridays for Future machen nicht den Fehler, ihre Aktionen auf mehrseitige, differenziert ausgearbeitete und ausgewogene Forderungskataloge zu stützen, sondern sie spitzen sehr bewusst zu, wenn sie sagen: "Ihr müsst umsetzen, was ihr in Paris beschlossen habt. Nicht irgendwann, sondern jetzt!" Genau wie wir damals zielen sie vor allem auf eine Veränderung der herrschenden Politik, weniger auf eine Veränderung des politischen oder gesellschaftlichen Systems. Das machte und macht die Forderungen anschlussfähig bis weit ins bürgerliche Lager hinein.

Auch, wenn das vielleicht zuerst mal irritiert, will ich auf eine weitere Parallele hinweisen. So, wie die Klimabewegung der 2020er Jahre hatte auch die Anti-Raketen-Bewegung der 1980er Jahre eine ikonische und charismatische Führungspersönlichkeit, die extrem polarisierte und dadurch die Aufmerksamkeit maximal auf das Thema lenkte. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass beides Frauen sind: heute Greta Thunberg, damals Petra Kelly. Ich bin weit entfernt davon, Personenkult zu betreiben, aber die Polarisierung, die die bürgerlichen Medien um diese zwei Frauen betrieben und betreiben, hat auf jeden Fall die öffentliche Wahrnehmung für die Anliegen, für die sie stehen bzw. standen, ganz massiv erhöht und viele Menschen dazu animiert, Stellung zu beziehen.

Eine Mehrheit gegen Atomraketen, für Abrüstung und Entspannung hat die Welt verändert

Eine weitere Parallele beider Bewegungen: Der Krefelder Appell war ein Mittel der Selbstermächtigung. Dass wir losgezogen sind, um Unterschriften zu sammeln, hat uns das Gefühl gegeben, dass wir den Entscheidungen der Mächtigen in Bonn, Brüssel und Washington gegenüber nicht hilflos ausgesetzt sind, sondern dass wir selbst etwas tun können, um diese zu beeinflussen. Genau so geht es heute den Schüler*innen und Studierenden, wenn sie freitags statt in die Schule in die Innenstädte und vor die Parlamente ziehen.

Heute müssen wir um die historische Deutungshoheit der Ereignisse in den 80er Jahren kämpfen. Es ist richtig: die Bewegung gegen die Mittelstreckenraketen war nicht unmittelbar erfolgreich, denn der Bundestag fasste am 22. November 1983 den Beschluss zur Stationierung der US-Mittelstreckenraketen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP. Die SPD, deren Kanzler Helmut Schmidt 1979 für das Zustandekommen des NATO-Raketenbeschlusses maßgeblich verantwortlich war, hatte ihre Beschlusslage zu dem Zeitpunkt bereits verändert. Immerhin waren ja auch viele Sozialdemokrat*innen in lokalen Friedensinitiativen aktiv und hatten Unterschriften unter den Krefelder Appell gesammelt - zunächst gegen den entschiedenen Widerstand ihres Parteivorstands. Ich erinnere mich noch, dass bei der ersten großen Demo in Bonn am 10.10.1981 viele Jusos und andere linke Sozialdemokrat*innen trotz gegenteiliger Beschlüsse der Parteiführung aktiv dabei waren.

Heute verbreiten diejenigen politischen Kräfte, die damals glaubten gesiegt zu haben, dass das Ende der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Vertrages vor allem der harten Haltung der NATO und deren wirtschaftlicher und militärischer Überlegenheit zu verdanken sei.

Dazu ein Zitat: Zum 40. Jahrestag des NATO-Doppelbeschlusses schrieb das Springer-Blatt "DIE WELT": "Helmut Schmidt (SPD) gilt laut Umfragen noch bei vielen Deutschen als der beliebteste Kanzler. Doch fragt man nach dem größten außenpolitischen Erfolg, den seine Politik hatte, dann fällt die Antwort oft entgegengesetzt aus. Denn die gerade in der Bundesrepublik bis heute übel beleumundete Nachrüstungspolitik der 80er-Jahre, die letztlich zum Sieg des Westens im Kalten Krieg, zum Zusammenbruch des Kommunismus und damit zur Wiedervereinigung führte, ging auf den zweiten Kanzler einer sozialliberalen Koalition zurück." (12.12.2019)

Und auch unsere Gegenbewegung kann DIE WELT klar einordnen:

"Wichtiger als die beiden kleinen Nato-Partner war die Bundesrepublik, denn hier sollten die meisten der neuen US-Atomwaffen stationiert werden. Der KGB legte sich ins Zeug – und hatte Erfolg: Am 16. November 1980, ein Jahr nach der Konferenz in Brüssel, wurde der „Krefelder Appell“ gegen die Nachrüstung veröffentlicht; kommunistische Aktivisten hatten ihn weitgehend formuliert. Entsprechend war von der sowjetischen Aufrüstung keine Rede. Doch obwohl unter anderem WELT klar darauf hinwies, unterschrieben bis 1983 rund vier Millionen Bundesbürger den „Appell“."

Klingt da wohl ein bisschen Beleidigtsein durch, dass so viele Menschen die Aufklärung aus dem Hause Springer nicht ernst nahmen und den Krefelder Appell eben nicht als Machwerk aus den Hinterzimmern des KGB, sondern als ernsthaften Friedensaufruf betrachteten und nutzten?

Auch Meinungsumfragen aus dem Jahr 1983 weisen darauf hin, dass die Mehrheit der Menschen die Stationierung neuer Atomraketen ablehnte und lieber weiter über Abrüstung verhandeln wollte - und zwar bis weit hinein ins Lager der Unionswähler*innen.

Meine Einschätzung der historischen Ereignisse ist eine andere. Ein Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestrojka wäre in der schon dem Zerfall geweihten Sowjetunion nicht möglich gewesen, wenn man in Moskau hätte fürchten müssen, dass die USA und die NATO diese Gelegenheit nutzen könnten, um militärisch einzugreifen. Eine Friedensbewegung, die in allen westlichen Ländern, vor allem aber im ökonomisch und politisch starken Deutschland, unübersehbar klargemacht hatte, dass sie Angriffe auf die Sowjetunion und deren Verbündete nicht tolerieren würde und dass sie den Einsatz von Atomwaffen für illegitim hielt, hat vermutlich mehr für die überwiegend friedliche Transformation in den Ländern Osteuropas geleistet, als die ganze NATO mit ihrem Säbelrasseln und die Springerpresse mit ihrem doktrinären Antikommunismus.

Rüstungsspirale heute: Von der „Blockkonfrontation“ zum „jeder gegen jeden“?

Ich kann jetzt historisch nicht so ins Detail gehen, aber wenn wir aktuelle politische Debatten betrachten, etwa um den INF-Vertrag und den NEW START-Vertrag, so kommt immer wieder dasselbe Muster zum Vorschein: Auch, wenn die NATO Russland und China militärisch weit überlegen ist, wird jeder Versuch der Gegenseite, einem strategischen Gleichgewicht irgendwie nahe zu kommen, mit einer neuen Aufrüstungsrunde beantwortet. Nun sind wir aber nicht mehr in einer Systemkonkurrenz, sondern in einer strategischen Konkurrenz verschiedener kapitalistischer Machtblöcke um Einflusssphären, Handelswege, Zugriff auf Rohstoffe, Land und Absatzmärkte.

Und selbst die NATO ist kein einheitlicher Block mehr, weil die Interessen der USA und Westeuropas in dieser Situation immer weiter auseinanderdriften. Wahrscheinlich ist in dieser Welt, in der wir heute leben, das Anliegen, das uns in den 1980ern zusammengeführt hat, noch entschieden wichtiger als damals. Warum?

Zerschlagung der Architektur von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen

Während des Kalten Kriegs haben wir mehrfach erlebt, dass die Welt am Rande eines Atomkriegs stand. Jedes Mal zeigte sich, dass auf beiden Seiten genug rationale Kräfte in Entscheidungspositionen waren, um diese letzte, alles vernichtende Eskalation zu verhindern. Spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident ist aber klar, dass man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass die Bevölkerung in demokratischen Wahlen nur solche Personen mit Macht ausstattet, deren intellektuelle Fähigkeiten und deren Charakter dieser Herausforderung auch gewachsen wären. Der noch amtierende US-Präsident hat in nur vier Jahren die gesamte Architektur von Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen in die Tonne gehauen. Es wird sicher mehr als vier Jahre dauern, um den Schaden daraus wieder einigermaßen einzuhegen. Man stellt sich das ja immer so einfach vor, aber jedem dieser Abkommen liegen jahrelange Verhandlungen zwischen Diplomat*innen und Politiker*innen zugrunde. Hoffentlich können sich Biden und Putin nach dem 20.1. innerhalb von zwei Wochen wenigstens auf die Verlängerung von New START einigen, die bis zum 5. Februar erfolgen muss.

Schwindende Vorwarnzeit

Die technologische Entwicklung verringert die Zeit, in der eine Entscheidung  getroffen werden kann, immer weiter. Hatte Oberstleutnant Stanislaw Petrow am 26. September 1983 noch eine Viertelstunde Zeit um einzuschätzen, dass der von Computern gemeldete Start amerikanischer Interkontinentalraketen ein Fehlalarm war und daher nicht mit einem Gegenschlag beantwortet werden müsste, sind die heutigen Interkontinentalraketen schon deutlich schneller, ganz zu schweigen davon, dass Russland und die USA an Hyperschallträgersystemen arbeiten und die Stealth-Technologie ein frühzeitiges Entdecken erschwert. Die Entwicklung automatischer und teilautomatischer Systeme beschleunigt die Reaktionszeiten noch weiter. Die Entwicklung von Cyberwaffen, die unter Umständen die Kontrolle und Lenkung von Waffensystemen über Satelliten außer Kraft setzen können und die Existenz bunkerbrechender "smart nukes" kann Situationen erzeugen, in denen ein vorsorglicher Einsatz von Atomwaffen für die Militärs attraktiv erscheint, wollen sie nicht riskieren, dass ein Gegner das eigene Zweitschlagspotenzial zerstört.

Die drohende Auflösung des Atomwaffenmonopols

Immer mehr aufstrebende Staaten und Regionalmächte sind nicht bereit, sich damit abzufinden, dass das Atommonopol bei denjenigen Ländern liegt, die sich früh genug Atomwaffen ausgestattet haben. Wenn es weiterhin keine ernsthaften Anstrengungen der Atommächte zur Abrüstung gibt, ja im Gegenteil, die atomaren Potenziale noch aufgerüstet und modernisiert werden, dann wird auch der NPT, der Nichtweiterverbreitungsvertrag, nicht mehr lange halten.

Aufrüstung im Schatten der Pandemie

Und schließlich gibt es noch ein ganz unmilitärisches Argument. Wir befinden uns in einer der schwersten Krisen der Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch ist es vor allem eine Gesundheitskrise, die nicht nur die völlig unterfinanzierten und schlecht ausgestatteten Gesundheitssysteme der ärmsten Länder an ihre Grenzen bringt, sondern vor allem auch das teuerste Gesundheitssystem der Welt: das der Vereinigten Staaten von Amerika. Eine Viertelmillion Menschen ist bisher dort an einer Infektion mit dem neuen Coronavirus gestorben. Und das Risiko ist hoch, dass es nicht nur bei einer Gesundheitskrise bleibt. Die Pandemie und ihre Bekämpfung haben global verheerende Wirkungen auf viele Wirtschaftszweige. Um diese abzufedern, werden zunächst die Staatsschulden erhöht. Anstatt Steuern und Sonderabgaben für die Profiteure der Krise auch nur in Erwägung zu ziehen, wird diese Politik früher oder später zur Kürzung von Sozial- und Bildungsausgaben, zur Erhöhung von Steuern und Abgaben für die Normalbevölkerung oder zu einer Inflation führen. Dennoch geht der weltweite Anstieg der Rüstungsausgaben weiter, in Deutschland werden wir im kommenden Jahr erneut eine Steigerung der Rüstungsausgaben um 2 bis 3 Milliarden Euro sehen. Etwa so viel hätte die Ausstattung der Schulen mit ausreichend Luftfiltern für alle Klassen gekostet. Die neuen Atombomber für die Bundeswehr werden uns in den nächsten Jahren zwischen 8 und 20 Milliarden Euro kosten, die Betriebskosten noch nicht eingerechnet - Geld, das wir in andere Bereiche umlenken könnten, wenn wir aus der nuklearen Teilhabe der NATO aussteigen würden.

Das technologische Rennen, von dem ich vorhin schon gesprochen habe, bringt eben nicht nur hohe Risiken, sondern hat auch einen superhohen Preis. Und diesen Preis sollten wir nicht weiter zahlen. Deswegen ist es heute umso wichtiger, das Bündnis "abrüsten statt aufrüsten" zu unterstützen und dort auch wieder zu gemeinsamen Aktionen zu kommen.

Abrüsten statt Aufrüsten – Atomwaffen abschaffen

Die technologische Entwicklung hat uns auch schlauer gemacht, was die Auswirkungen eines Atomkriegs wären. Aktuell lagern 14.465 Atomsprengköpfe in den Bunkern der Atomwaffenmächte. Eine Studie aus dem Jahr 2015 belegt nun, dass auch von einem begrenzten Atomwaffeneinsatz nicht nur die Menschen in dem Kriegsgebiet betroffen wären, sondern alle Menschen auf der Erde. In dieser Studie haben die Autoren einen regionalen Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan mit 100 Sprengköpfen in Computermodellen simuliert und dabei festgestellt, dass allein dieser die Atmosphäre so verdunkeln würde, dass die Landwirtschaft in China, Indien und den USA einbrechen würde. Die Folgen wären unabsehbar: Milliarden Hungernder, steigende Brotpreise überall auf der Welt, die zu Aufständen und Rebellionen, vielleicht sogar zu zwischenstaatlichen Kriegen zwischen führen würden.

Bis zu zwei Milliarden Menschen würden verhungern. Auch in den 80ern haben schon Wissenschaftler*innen auf das Risiko eines solchen "nuklearen Winters" hingewiesen, hatten aber noch nicht die Computerleistung, die heute bei den Berechnungen hilft. Angesichts dieser globalen Gefahr kann es nicht mehr der Entscheidung einzelner Regierungen überlassen sein, Atomwaffen zu besitzen oder einzusetzen. Diese Gefahr geht die ganze Menschheit an, denn sie bedroht unser aller Zukunft.

Heute haben wir ein Instrument in der Hand, das sich als noch wirksamer erweisen kann, als der Krefelder Appell. Am 22. Januar 2021 tritt der UN-Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft. Alle Atommächte und ihre Bündnispartner haben bis zuletzt versucht, das durch diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf die Unterzeichnerstaaten zu verhindern. Auch die Bundesregierung lehnt einen Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag ab. Aber auch hier sehen wir, dass es in der Bevölkerung, auch an der Basis der Regierungsparteien, eine ganz andere Haltung gibt, ähnlich wie vor 40 Jahren. Dem ICAN-Städteappell, der die Bundesregierung auffordert, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, sind inzwischen von 106 Städte und Gemeinde, 5 Kreise und vier Bundesländer beigetreten - oft sogar einstimmig. Die Bereitschaft der Kommunen, die jetzt die ganze Last der Pandemie tragen, Steuergelder im Rachen der Rüstungswirtschaft verschwinden zu sehen, während sie vor Ort nicht einmal genug Personal für die Gesundheitsämter haben, wird in dieser Situation sicher nicht größer. Wir können also von unten, aus den Kommunen heraus, den Druck auf die Bundesregierung erhöhen. Und 169 Bundestagsabgeordnete haben bereits den Abgeordnetenappell für das Atomwaffenverbot unterzeichnet. Wir sollten dafür sorgen, dass diese Forderung in den Wahlprogrammen auftaucht und nach der Bundestagswahl Druck machen, dass sie in einen möglichen Koalitionsvertrag aufgenommen wird.

Und wir sollten etwas neu beleben, was wir in den Achtzigern sehr erfolgreich gemacht haben: nämlich Diplomatie von unten. Wir sollten dafür werben, dass sich überall Menschen für das Atomwaffenverbot engagieren, dass sie ihre Regierenden drängen, dem Vertrag beizutreten, von Washington bis Wladiwostok und von Tsingtao bis Teheran. Wir haben unsere Netzwerke, unsere Städtepartnerschaften und unsere Austauschprogramme: Nutzen wir sie doch!

Es ist an der Zeit, die Atomwaffen nicht mehr nur zu regulieren, sondern sie ganz von der Erde zu verbannen. Jetzt.

 

Weitere Informationen: Jahrestag "40 Jahre Krefelder Appell"

Videomitschnitt der Veranstaltung "40 Jahre Krefelder Appell" im Frankfurter Gewerkschaftshaus
15. November 2020, 11:00 Uhr bis 15:00 Uhr

Flyer: Einladung und Programm

Teilnehmende an der Veranstaltung am 15.11.2020:

  • Dr. Frank Deppe: Politisch-historische Einordnung des Krefelder Appells
  • Kathrin Vogler (MdB): Aktuelle Wirkung des Krefelder Appells
  • Erinnerungen, Erfahrungen von Till Bastian, Reiner Braun, Renan Demirkan, Silvia Gingold, Franz-Josef Kemper, Prof. Dr. Gert Sommer, Christoph Strässer, Werner Ruf, Horst Trapp und anderen
  • Filmbeiträge und Musik von Diether Dehm

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