FAQs: Was ist los am "Pharmastandort Deutschland"?

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) meldet seit Monaten dramatische Lieferengpässe; derzeit fehlen 400 rezeptpflichtige Medikamente. Das wirft Fragen auf und Kathrin Vogler antwortet: Was läuft in Deutschland, der ehemaligen "Apotheke der Welt", falsch und was muss dringend anders werden, damit es besser wird?

 

 

Lieferengpässe - was ist los mit dem deutschen Pharmamarkt?

Der Pharmastandort Deutschland ist in letzter Zeit zu Recht in die Kritik geraten, weil teils lebenswichtige Arzneimittel, zum Beispiel für die Brustkrebstherapie, über Monate nicht erhältlich waren oder Eltern sich gezwungen sahen, den hier nicht mehr vorrätigen Fiebersaft für ihre Kinder im benachbarten Ausland einkaufen zu müssen. Das  BfArM listet aktuell immer noch hunderte Medikamente und Medizinprodukte, die nicht lieferbar sind. Das ist schon eine katastrophale Fehlleistung des größten europäischen Pharmamarkts, dessen Umsatz sich in den letzten fünfzehn Jahren auf fast 54 Mrd. Euro mehr als verdoppelt hat. Und trotz Umsatzsteigerung heißt es in der Branche, Deutschland sei als Absatzmarkt nicht mehr attraktiv? Aus meiner Sicht stellt sich eher die Frage, ob der Pharmastandort Deutschland noch funktional ist, was die gesetzliche Verpflichtung der pharmazeutischen Industrie nach § 52b des Arzneimittelgesetzes betrifft, die Versorgung unserer Bevölkerung mit allen notwendigen Medikamenten zu sicherzustellen.

Pharmaforschung - vergesellschaftete Finanzierung, aber privatisierter Profit?

Die Pharmaindustrie gilt als Deutschlands forschungsintensivster Wirtschaftszweig mit hochqualifiziertem Personal, da gibt es innovative und leistungsstarke Potentiale, was wir etwa bei der Entwicklung der COVID-Impfstoffe sehr gut sehen konnten. Allerdings wird die pharmazeutische Grundlagenforschung größtenteils durch Steuergelder finanziert, die kommerzielle Forschung weitgehend aus den Beiträgen der gesetzlich Krankenversicherten. Diese gesellschaftlichen Investitionen ermöglichen der Industrie Umsatzrekorde, verbessern aber die Arzneimittelversorgung unserer Bevölkerung nicht entsprechend. Im Gegenteil: bei sinkenden Gewinnmargen drohen die Unternehmen mit Marktrücknahmen und Lieferstopps, um höhere Preise durchzusetzen. Grundsätzlich konstatiert DIE LINKE, dass die Stärke des Pharmastandorts Deutschland darin liegen muss, dass er sich stärker am Gemeinwohl orientiert und nicht an Gewinnmargen, dass er den Arzneimittelmarkt liefersicher hält und für einen gerechten Umgang mit den Ergebnissen der staatlich geförderten Arzneimittelforschung sorgt.

Wie sichert man eine krisenfeste Versorgung der Bevölkerung?

Welcher Preis für ein neues Arzneimittel aufgerufen wird, sollte durch den Nutzen für die Patient*innen und am tatsächlichen Forschungsaufwand der Industrie für die Entwicklung definiert werden. Es ist falsch, dass für frisch patentierte Arzneimittel oft Fantasiepreise aufgerufen werden, während wichtige Arzneimittel, die sich nicht rentieren, zurückgezogen werden, wie etwa Antibiotika. Was die krisenfeste Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten betrifft, so sollte die gesetzliche Verpflichtung der Pharmaunternehmen, diese Versorgung sicherzustellen, nicht länger eine Leerformel bleiben, sondern - wie in vielen anderen europäischen Ländern üblich – sanktionsbewehrt durchgesetzt werden. Mehr Gerechtigkeit heißt zum Beispiel, dass staatlich geförderteArzneimittelforschung und -entwicklung auch ‚non-profit benefits‘ zulassen muss.In der Corona-Pandemie zum Beispiel haben wir die Freigabe der Impfstoffpatente gefordert, aber selbst in dieser globalen Ausnahmesituation waren weder die Große Koalition noch anschließend die Ampelregierung bereit, die Legitimität einer ausschließlich kommerziellen Verwertung der Impfstoffpatente auch nur in Frage zu stellen.

Was bedeutet "gerechte Preispolitik" in der Arzneimittelversorgung?

Die gesetzliche Krankenversicherung hat 2021 allein 46,6 Mrd. Euro, fast ein Sechstel ihres Gesamtetats, für Arzneimittel ausgegeben. Die generischen Arzneimittel machen zwar 79 Prozent der Arzneimittelversorgung aus, fallen aber bei den Krankenkassen mit nur 7,2 Prozent der Arzneimittelausgaben ins Gewicht. Es darf nicht sein, dass man für patentgeschützte Arzneimittel Mondpreise fordern kann, aber die bewährten Generika verramscht werden. Eine grundsätzliche Reform der Preisbildung bei Medikamenten ist dringend notwendig. Um bewerten zu können, ob die Klagen berechtigt sind, fehlt allerdings der nötige Einblick, wie die Preise in der Pharmaindustrie sowohl bei generischen als auch bei patentierten Arzneimitteln zustande kommen.  Die BUKO Pharma-Kampagne nennt markante Beispiele: eine AIDS-Behandlung mit Markenmedikamenten kostet 10.000 € pro Jahr bei Herstellungskosten unter 100 €; ein Mittel gegen Hepatitis C wird für 60.000 € verkauft bei Produktionskosten von  60 €. Dagegen werden Generika im Rahmen der Rabattverträge teilweise noch unter dem Preis der Verpackung gehandelt - das ist alles andere als nachhaltig und gerecht.

Löst eine Re-Europäisierung der Arzneimittelproduktion die Versorgungsprobleme?

Immer mehr Pharmaunternehmen wandern aus Deutschland und Europa ab, zum Beispiel in die USA, weil sie dort höhere Preise für ihre Produkte erzielen können, oder nach Asien wegen der günstigeren Produktionsbedingungen. Diesen Trend stoppen zu wollen, indem man versucht, Unternehmen etwa durch noch mehr staatliche Subventionen an den Standort Deutschland zu binden, ist der falsche Weg. Auch die Appelle an die Industrie, seit Jahren ausgelagerte Produktions- und Zulieferstrukturen zu re-europäisieren, sind nicht zielführend. Die Globalisierung auch dieses Wirtschaftsbereichs ist vollzogen und das ist auch nicht das eigentliche Problem, wenn die Pharmaindustrie die hier bei uns vorgeschriebenen sozialen und ökologischen Standards einhält. Aus unserer Sicht wäre ein erster wichtiger Schritt die Abschaffung der Rabattverträge. Sie tragen maßgeblich zu einer Ausdünnung des Arzneimittelmarktes bei, weil viele Unternehmen, die hier keinen Zuschlag für ihr Medikamente erhalten, die Produktion einstellen oder nur noch für die Länder produzieren, in denen sie mit ihren Arzneien höhere Preise erzielen können. Der in Lauterbachs Eckpunktepapier angekündigte Versuch, das System der Rabattverträge für patentfreie Krebsmedikamente und Antibiotika aufzubrechen, wird das Problem nicht lösen. Die europäischen Firmen bleiben trotzdem vielfach abhängig von Wirkstoffimporten aus Drittländern, denn für viele Wirkstoffe gibt es kaum alternative Produzenten. Außerdem werden auch innerhalb der EU viele Generika nur noch von wenigen oder einzelnen Firmen produziert, so dass diese bei den Ausschreibungen wieder Fantasiepreise ansetzen könnten – zu Lasten der ohnehin gebeutelten Krankenkassen.

Gehört öffentlich finanzierte Pharmaforschung nicht besser in öffentliche Hand?

Die Grundlagenforschung und auch die klinische Erprobung mit Steuergeldern zu fördern, dann aber die Patente und damit zukünftige Erträge in der Hand der Unternehmen zu lassen, ist im Kern eine Umverteilung aus den Taschen der Steuerzahler in die Taschen der Aktionäre von Bayer, Pfizer und Co. Öffentlich finanzierte Forschungsergebnisse müssen auch in staatlicher Hand bleiben. DIE LINKE fordert schon immer, dass eine staatlich finanzierte Pharmaforschung unabhängig von den großen Konzernen auf den Weg gebracht werden muss. Die so entwickelten Medikamente könnten dann in Lizenz produziert werden – überall auf der Welt, zu Preisen, die auch die Armen bezahlen können. Die Lizenzeinnahmen könnten nicht nur die Abhängigkeit von Drittmitteln (aus der Industrie) verringern und damit die Freiheit der Forschung fördern, sie könnten auch genutzt werden, um den Nachwuchsforscher*innen statt prekärer Kurzzeitverträge langfristige und auskömmliche Arbeitsverhältnisse zu bieten.

Wird die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens die Arzneimittelversorgung verbessern?

Was die Möglichkeiten der Datenerhebung und –nutzung in Deutschland betrifft, so steht ja unser Gesundheitssystem bekanntermaßen auf Kriegsfuß mit der Digitalisierung. Dass die Pharmaforschung deshalb mit dem geplanten „Europäischen Gesundheitsdatenraum (EHDS)“ auf einen zugänglicheren und unendlich größeren Datenpool hofft und damit auf bessere Forschungsbedingungen, ist nachvollziehbar. Aber DIE LINKE wird die Etablierung des EHDS sehr kritisch begleiten und sich auch weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass jede „Zweitverwertung“ der Patient*innendaten durch kommerzielle Nutzer in den ganz engen Grenzen der DSGVO und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung stattfinden wird.

 

Siehe auch:
"Pharmastandort Deutschland: Zu teuer und zu billig" (17.02.2023)

Download:
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln