Konflikt, Gerechtigkeit und sozialer Wandel - Ein Reisebericht aus dem Libanon

Vom 13.-16.11.2018 besuchte ich auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung (rls) eine internationale Konferenz in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Die Konferenz mit dem Titel "Social and Transformative Justice in Conflict and Post-Conflict Settings" brachte Diskutanten aus verschiedenen Kontinenten zusammen, um über die sozioökonomischen Wurzeln von Konflikten sowie daraus folgenden Ansätzen zu ihrer Bearbeitung zu sprechen. In verschiedenen Panel-Diskussionen wurde zu damit verbundenen Themen intensiv diskutiert. Die Konferenz war nicht öffentlich, sondern als Gesprächsrahmen für Expertinnen und Experten konzipiert.

Da ich erst am Dienstagabend anreisen konnte, hatte ich keine Möglichkeit an der Auftaktveranstaltung teilzunehmen. Der Mittwoch begann mit einer Begrüßung durch Boris Kanzleiter, Leiter des Zentrums für Internationalen Dialog der rls, in der er deutlich machte, dass es nicht ausreiche, einfach nur für Frieden zu sein und dass ein reduzierter Antiimperialismus nach dem Motto "der Feind meines Feindes ist mein Freund" ebenfalls nicht hilfreich dabei sei, die komplexe Realität von Konflikten zu verstehen. Er warb für einen Ansatz des "positiven Friedens", der auch die ökonomischen wie ökologischen Kriegsursachen und -folgen in den Blick nimmt.

Anschließend stellte die US-amerikanische Völkerrechtlerin Erin Daly in einem Referat einen menschenwürdezentrierten Ansatz der zivilen Konfliktbearbeitung vor. Sie erkennt einen radikalen Wandel im internationalen Recht: Während Jahrhunderte lang die Souveränität der Einzelstaaten die maßgebliche Größe des Völkerrechts war, sei nach 1945 die neue Idee der Menschenwürde stärker ins Zentrum gerückt. Matthias Reuss aus Deutschland stellte demgegenüber stärker konkrete Erfahrungen aus Prozessen der Transitional Justice wie in Ruanda, Bosnien oder im Südsudan dar. Er warb dafür, Aufarbeitungsprozesse zu lokalisieren und nicht zu viel von der internationalen Gemeinschaft zu erwarten. Er verwies darauf, dass Nationalstaaten ihre Legitimiation auch aus dem Grad der Compliance zu internationalem Recht ziehen sowie auf die Bedeutung des Gewaltmonopols des Staates.

Auf einem Panel unter dem Titel "Lokale Kämpfe für soziale und transformative Gerechtigkeit" stellten Waddad Halwani und Damir Arsenijevic Erfahrungen aus Libanon und Bosnien vor, in denen es um die Suche nach Gerechtigkeit für die Opfer und Hinterbliebenen der jeweiligen Konflikte ging, Dies wurde ergänzt durch Beiträge von Teilnehmenden über Libanon, Argentinien, Cote d'Ivoir und Zypern.

Das nächste Panel beschäftigte sich mit den "Shrinking Spaces", mit denen die Zivilgesellschaft in vielen Ländern der Welt konfrontiert sind. Eine Aktivistin aus Syrien machte deutlich, wie sie unter den derzeitigen gefährlichen Bedingungen versuchen, Einfluss auf die Zukunft des Landes zu nehmen. Sie kritisierte unter anderem die geringe Beteiligung von Frauen in Friedensprozessen und stellte erneut die Forderung nach einem demokratischen, vielfältigen Syrien in den Mittelpunkt.

Ergänzend berichtete ein Teilnehmer aus Osttimor darüber, wie seine NGO die Regierung berät und die Bevölkerung einbezieht in den Bemühungen, schädliche politische Praktiken wie Korruption und Vetternwirtschaft zurückzudrängen.

Am Abend gab es Gelegenheit sich informell auszutauschen und gemeinsame Projekte zu verabreden.

Am Donnerstag trugen Prof. Werner Ruf (Deutschland) und Jamie Allison (Schottland) ihre Gedanken zur Ökonomie des Krieges und des Nach-Kriegs vor. W. Ruf machte in seinem Vortrag deutlich, wie der Neoliberalismus im Sinne Johan Galtungs als System struktureller Gewalt wirkt, dieses aber auch direkte kriegerische Gewalt hervorbringe. Er erläuterte dies an den Beispielen IS und Afghanistan, wo derzeit ca. 200 sogenannte private Sicherheitsunternehmen mehr Söldner einsetzten als alle Armee dort Soldaten. Jamie Allison verwies auf die gewaltfördernde Rolle von Ressourcenkonflikten, vor allem bei solchen Ressourcen, die leicht zugänglich und wertvoll seien. In der Diskussion wurde unter anderem auf die Rolle ungerechter Freihandelsabkommen und die konfliktverschärfenden Rüstungsexporte hingewiesen.

In einem letzten Panel zu ziviler Konfliktbearbeitung beschrieb Jan van Aken den Unterschied zwischen einem Mainstream-Konzept ziviler Konfliktbearbeitung, das auf Deeskalation sozialer Konflikte setze und linken Konzepten, die soziale Konflikte eher eskalieren müssen. Er sehe Konflikte als Agenten des Wandels, etwa indem man gegen die Sklaverei in den Kakaoplantagen Westafrikas die Verantwortung der dahinterstehenden Konzerne zuspitze. Adriana Maria Benjumea Rua referierte über ihre Erfahrungen aus dem Friedensprozess in Kolumbien und legte dabei besonderen Wert auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft und vor allem der Frauen. Der Friedensvertrag allein bringe noch keinen Frieden, aber er öffne ein Fenster für eine friedliche Gesellschaft. Sie verwies darauf, dass die UN-Resolution 1325 in Kolumbien eine intensive Beteiligung von Frauen ermöglicht habe, ein Ansatz, der in vielen Konflikten noch zu wenig beachtet werde. Frauen haben zu allen politischen Fragen etwas zu sagen und müssen gehört werden. Immerhin waren bei der FARC-Guerrilla 40% der Kämpfenden Frauen, dennoch habe es keine Gleichheit gegeben. Sexuelle Gewalt sei ein wichtiges Thema im Friedensprozess gewesen. Im Rahmen der transitiven Gerechtigkeit dürfe es keine Amnestie für Vergewaltiger geben. Versöhnung sei nicht möglich, solange es Straffreiheit für Täter gebe, wer dies verlange, füge den Frauen eine erneute Demütigung zu.

Nach einem zusammenfassenden Abschlussplenum gab es die Möglichkeit, an einem spannenden politischen Stadtrundgang durch "Downtown Beirut" teilzunehmen, der verschiedene Aspekte der Konflikt-Geografie streifte und einen guten Überblick über die mit dem Wiederaufbau verbundenen stadtpolitischen Diskussionen gab. Der Bürgerkrieg hat tiefe Spuren im Stadtbild von Beirut hinterlassen und der Wiederaufbau hat eine völlig neue City geschaffen, in der die alten Bewohner*innen keinen Raum mehr haben. Auch die Frage nach Gedenkorten  sowie nach öffentlichem und nichtöffentlichem Raum spielt in der Stadtgesellschaft Beiruts eine Rolle. Auch hier wurde deutlich, dass Wiederaufbau in Nachkriegssituationen keine unpolitische, technische Angelegenheit ist, sondern ein Spiegel der politischen und ökonomischen Machtverhältnisse.

In der Nacht reiste ich von Beirut wieder nachhause, leider konnte ich aus Zeitgründen an einem für den nächsten Tag vorgesehenen "Field Trip" nach Tripoli nicht teilnehmen.