Aktuelle Stunde im Bundestag: Freilassung der von Boko Haram entführten Schulmädchen in Nigeria

Rede im Bundestag

Auf Antrag der Großen Koalition beschäftigte sich der Bundestag am Mittwoch in einer Aktuellen Stunde mit den von der islamistischen Sekte Boko Haram in Nigeria entführten Schulmädchen. Insbesondere Unions-Fraktionschef Volker Kauder ging es darin aber nicht vor allem um die Situation der Schülerinnen, sondern er wollte das abscheulich Verbrechen offensichtlich lieber für Stimmungsmache gegen den Islam im allgemeinen nutzen. Kathrin Vogler antwortete ihm mit einer Geschichte über einen christlichen und einen muslimischen Geistlichen, die gemeinsam für das Zusammenleben der Religionen in Nigeria werben.

Auf Antrag der Großen Koalition beschäftigte sich der Bundestag am Mittwoch in einer Aktuellen Stunde mit den von der islamistischen Sekte Boko Haram in Nigeria entführten Schulmädchen. Insbesondere Unions-Fraktionschef Volker Kauder ging es darin aber nicht vor allem um die Situation der Schülerinnen, sondern er wollte das abscheulich Verbrechen offensichtlich lieber für Stimmungsmache gegen den Islam im allgemeinen nutzen. Kathrin Vogler antwortete ihm mit einer Geschichte über einen christlichen und einen muslimischen Geistlichen, die gemeinsam für das Zusammenleben der Religionen in Nigeria werben.

Kathrin Vogler (DIE LINKE):

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede in der heutigen Aktuellen Stunde gerne meiner Tochter und ihren Freundinnen widmen. Rosa, Larissa, Chiara, Kira, Diana, Angela und Alice besuchen die neunte Klasse des Gymnasiums in Emsdetten. Sie sind ganz normale Teenager und schon deshalb keine besonders begeisterten Schülerinnen. Aber sie wissen, dass Bildung, gute Bildung eine Voraussetzung für einen interessanten Beruf und ein selbstständiges Leben ist. Sie wollen Lehrerin oder Lektorin, Steuerberaterin oder Grafikerin werden. Ich wünsche ihnen von Herzen, dass sie sich diese Wünsche erfüllen können.

Am 14. April dieses Jahres endeten ganz ähnliche Träume von über 200 Mädchen im Norden Nigerias auf brutale Weise. Aus ihrer Schule wurden sie nachts entführt und verschleppt. Eine gewalttätige Sekte namens Boko Haram hat diese Mädchen zu Zielobjekten gemacht, und das nur, weil sie lernen und sich aus Unwissenheit und Abhängigkeit befreien wollten. Durch diese Entführung haben die gewaltsamen Konflikte in Nigeria erstmals große internationale Aufmerksamkeit erhalten; sie haben sozusagen 200 Gesichter bekommen.

Wir können uns einfühlen in die Angst dieser Jugendlichen, in die Verzweiflung ihrer Eltern oder in die Wut all der Menschen in Nigeria, die sich solche Übergriffe nicht mehr gefallen lassen wollen und gegen die Untätigkeit ihrer Regierung auf die Straße gehen. Unsere Gefühle sind bei den Menschen dort. Auch wenn die weltweite Solidaritätskampagne sicher nicht unmittelbar die Freilassung der Schülerinnen erreichen wird, so hat sie zumindest die Verantwortlichen in Nigeria und den Nachbarländern wachgerüttelt.

Auch ich möchte den Kolumnisten Nicholas Kristof von der New York Times zitieren, und zwar etwas genauer. Er fragt: „Warum lassen sich Fanatiker so schrecken durch Bildung für Mädchen?“ Er antwortet:

Es gibt keine machtvollere Kraft, um eine Gesellschaft umzugestalten. Die größte Bedrohung für den Fanatismus sind nicht Raketen, die von Drohnen abgefeuert werden, sondern Mädchen, die Bücher lesen.

Er bedauert deshalb, dass der Westen viel, viel mehr in Drohnen und Raketen investiert als in Bildung. Da, finde ich, hat er recht.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte auch die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie zitieren, die sich mehr Komplexität in der Debatte wünscht, auch in den westlichen Medien. In der FAZ vom Wochenende forderte sie von uns:

Hört auf, es euch so leicht zu machen! Es ist nicht wie mit den Taliban. Nicht alles in der Welt muss in eure vorgefertigten kleinen Schubladen passen.

Auch sie sieht ein militärisches Eingreifen von außen skeptisch und fragt sich und uns:

Wenn ich die Präsidentin von Nigeria wäre, würde ich unsere Soldaten nach Amerika schicken, um dessen innenpolitische Probleme zu lösen?

Ich glaube, wir müssen bei aller Betroffenheit und Empörung gerade auf solche nachdenklichen Stimmen hören. Wir können die innenpolitischen Konflikte in Nigeria nicht stellvertretend lösen. Nicht wir werden diejenigen sein, welche die Mädchen zurückbringen. Aber wir können diejenigen ermutigen, die Wege aus Hass und Gewalt suchen.

(Beifall bei der LINKEN)

Als Beispiele nenne ich den Priester James Wuye und den Imam Muhammad Ashafa. Beide waren militante Glaubenskämpfer, der eine in einer christlichen Miliz und der andere in einer muslimischen - reiner Zufall, dass nicht der eine den anderen tötete. Irgendwann aber begegneten sie sich und stellten, jeder für sich, fest: Es geht hier gar nicht um Religion, sondern es geht um Macht, Geld und knappe Ressourcen. - Dann gründeten sie das Interreligiöse Zentrum für Mediation, mit dem sie seit fast 20 Jahren unter ihren Landsleuten die Gedanken von Versöhnung und Feindesliebe verbreiten. Beiden gemeinsam wurde im letzten Jahr sowohl der Deutsche Afrika-Preis als auch der Hessische Friedenspreis verliehen.

Dass ihr Engagement überhaupt in Deutschland wahrgenommen wurde, ist einem Projekt des Zivilen Friedensdienstes zu verdanken. Leider aber gibt es im Moment keine solchen Friedensdienstprojekte mit Unterstützung der Bundesregierung mehr in Nigeria. Projekte in derart schwierigen und umkämpften Regionen sind aufwendig und teuer. Die Bundesregierung hat die Mittel für den Zivilen Friedensdienst eingefroren. Diese Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist einfach falsch.

(Beifall bei der LINKEN)

Investieren wir doch in die Zukunft! Unterstützen wir Friedenskräfte und Versöhnungsarbeit, nicht nur, aber eben auch in Nigeria! Denn auch dieser Konflikt wird nicht mit Waffengewalt gelöst werden können, sondern nur - dazu haben ja schon einige vor mir Kluges gesagt - mit sozialer Gerechtigkeit und ziviler Konfliktbearbeitung. So könnten wir Verantwortung übernehmen: für den Frieden und für die Freilassung dieser Mädchen und aller anderen Entführten.

(Beifall bei der LINKEN)