Auf die Straße!

Wer in der jetzigen Situation im Nahen Osten so weiter macht wie bisher, hat aus den Erfahrungen der letzten 20 Jahre nichts gelernt und riskiert eine Zukunft, die noch gewalttätiger sein wird als die Gegenwart. Das Konzept des "Kriegs gegen den Terror" und des Kampfes gegen eine imaginäre "Achse des Bösen" ist krachend gescheitert.

Es hat zu mehr Gewalt, mehr Terror, mehr Toten, Verletzten und Traumatisierten geführt und eine halbe Generation junger Muslime zu potenziellen Kämpfern von Al Qaida und IS(IS) gemacht.

Es hat halbwegs funktionierende säkulare Staaten zerschlagen und durch von Milizen tyrannisierte Stammesgebiete ersetzt.

Es hat den Orient mit Waffen und ausgebildeten Kämpfern geflutet: Die Milizen wurden durch Waffenlieferungen aufgerüstet, um unbotmäßige Regime zu destabilisieren. Eben diese Milizen wenden ihre Macht nun gegen alle, die ihnen in den Weg treten.

Kurz: Die Politik des Westens in den letzten zwanzig Jahren hat im Nahen und Mittleren Osten, im Maghreb und Nordafrika nur Chaos, Zerstörung und Hass hinterlassen. Von Mali über Libyen, Syrien, Somalia und den Irak bis hin nach Afghanistan entstand ein Gürtel der Anarchie, in dem Gewalt alltäglich und das Überleben zum Zufall geworden ist, in dem Minderheiten zur Jagdbeute werden und Demokratie in weite Ferne rückt.

Die Strategie des Westens ist gescheitert, selbst wenn man sie rein an den ökonomischen Zielen misst. Das irakische Öl fließt jetzt zugunsten von russischen und chinesischen Konzernen, das syrische finanziert gar die Mörderbanden des ISIS und ihren Vormarsch auf die nordirakischen Ölfelder. Die Handelswege, Pipelines und Förderstätten sind keineswegs sicherer geworden. Die einzigen, die von diesem anhaltenden, nahezu globalen Krieg nennenswert profitieren, sind die Waffenproduzenten, die sich mit dem diesjährigen NATO-Gipfel und der dort anstehenden Mindest-Rüstungsvereinbarung von zwei Prozent des BIP wieder auf einen saftigen Schluck aus der Pulle freuen können.

Der Konflikt um die Ukraine kommt dem militärisch-industriellen Komplex in den NATO-Staaten gerade recht: Endlich wieder ein richtiges Feindbild, ein Motivationsprogramm für nahezu unbegrenzte Aufrüstung! Und schon regieren die alten Reflexe wieder das Handeln der westeuropäischen Regierungen: Rüsten, Rüsten, Rüsten!

Und wo bleibt die Friedensbewegung? In Umfragen gibt es solide Mehrheiten gegen die militärische Option. Dennoch ist diese Mehrheit scheinbar kaum zum Protest zu motivieren. Und die klassischen Friedensorganisationen stehen sich mit langen Debatten um die richtigen Schwerpunkte und Bündnispartner eher selbst im Wege, als dass sie Menschen zu eigenem Engagement motivieren und ermutigen. Aber: Ohne Aktion keine Bewegung!

Wer die palästinensischen und jesidischen Gemeinden in ihrer Empörung über die Angriffe auf Gaza und Shingal allein lässt, gibt den Anspruch als Friedensbewegung auf. Es ist nicht immer einfach, friedenspolitisch tragbare Forderungen zu formulieren, die der jeweiligen Situation gerecht werden. Doch auch wenn die Lage jeweils unterschiedlich und manchmal unübersichtlich ist, lautet die Minimalforderung an die Friedensbewegung:

Sie muss Solidarität und Empathie mit denen ausdrücken, die Opfer von Waffengewalt werden, insbesondere mit denjenigen, die selbst keine Waffen in die Hand genommen haben. Sie muss darüber hinaus deutliche Kritik üben an den Regierungen, die aus dem Scheitern der militärisch dominierten Weltpolitik der letzten Jahrzehnte nichts gelernt haben, sondern diese nahtlos fortsetzen.

Der Ruf nach mehr Waffen wird sicher nicht ungehört verhallen. Der Ruf nach mehr Politik, mehr Diplomatie und mehr Humanität allerdings, der braucht umso mehr und umso lautere Stimmen, um gehört zu werden, denn er wird nicht automatisch vom Resonanzboden starker wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen verstärkt.

Deswegen muss die friedenspolitische Losung lauten:

Auf die Straße! Jetzt!