Belgien auf dem Balkan? Bosnien-Herzegowina zwischen Resignation und Aufbruch

"Frustration". Kein Wort begegnet uns bei unserer Reise durch Bosnien-Herzegowina häufiger. Aber auch Verantwortung ist ein Begriff, der oft fällt. Mitten in Europa besuchen wir ein Land, dessen Existenz das Ergebnis eines blutigen Bürgerkriegs und eines Friedensabkommens ist, das in den Augen Vieler noch immer keinen Frieden gebracht hat.

 In Sarajewo sind die Wunden des Kriegs nicht nur an den Fassaden der Häuser noch offen, auch viele Seelen sind nach wie vor verwundet.

"Frustration". Kein Wort begegnet uns bei unserer Reise durch Bosnien-Herzegowina häufiger. Aber auch Verantwortung ist ein Begriff, der oft fällt. Mitten in Europa besuchen wir ein Land, dessen Existenz das Ergebnis eines blutigen Bürgerkriegs und eines Friedensabkommens ist, das in den Augen Vieler noch immer keinen Frieden gebracht hat.

Wir, das sind fünf Mitglieder des Bundestages aus dem Unterausschuss zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln, die sich im Jahr 19 nach Dayton ein eigenes Bild über die Lage in Bosnien Herzegowina machen wollen. Dafür sprechen wir nicht nur mit dortigen Politikerinnen und Diplomaten, sondern ganz bewusst auch mit Aktivistinnen aus Nichtregierungsorganisationen, Intellektuellen, Journalistinnen und Vertretern der "Plena".

Ausgehend von der Universitätsstadt Tuzla hatten sich die "Plena" in verschiedenen Städten in Bosnien-Herzegowina im Februar gebildet, um die sozialen Proteste zu unterstützen und politische Forderungen zu formulieren. Und soziale und politische Proteste sind in Bosnien-Herzegowina mehr als nötig. Die Erwerbslosenquote beträgt, je nach Berechnungsmethode, zwischen 25 und 50 Prozent, bei Jugendlichen ist sie noch sehr viel höher. Allerdings ist es, so sagt uns eine Aktivistin, nicht ausgemacht, wer schlechter dran ist: die Erwerbslosen oder diejenigen, die Arbeit haben.

Arbeit zu haben, bedeutet nämlich keineswegs, dass die Existenz gesichert ist. Bei einem Durchschnittseinkommen von 350 Euro reichen auch zwei Vollzeitjobs nicht aus, um eine Familie zu ernähren, selbst wenn man das Glück hat, dass das Unternehmen regelmäßig Löhne zahlt. Und um einen der begehrten Jobs zu bekommen und zu behalten, muss man sich in allen Landesteilen in ein korruptes Netz der Parteienplutokratie begeben. Ohne das richtige Parteibuch einer der nationalistischen Parteien läuft in Bosnien-Herzegowina nur wenig.

Die deutsche Delegation mit Abgeordneten der serbischen Nationalversammlung in Banja LukaUnd so wird verständlich, dass eigentlich alle Gesprächspartnerinnen unserer Delegation zwei Wochen nach den Wahlen mitteilen, es ändere sich gar nichts durch diese Wahlen. Der Sprecher des Parlaments der bosnisch-serbischen Teilrepublik Republika Srpska, Igor Radojčić, verkündete uns mit süffisantem Lächeln: "Im Wesentlichen bleibt alles, wie es ist. Einige haben verloren, Andere haben gewonnen. Es gibt keine neuen politischen Kräfte, die alten Bekannten haben ihre Macht gesichert." Diese Bewertung teilen auch die Vertreterinnen der Zivilgesellschaft zu nahezu 100 Prozent, nur zeigen sie sich damit keineswegs ebenso zufrieden wie die Politik. Nahezu 50 Prozent Nichtwähler und 460.000 ungültige Stimmen zeigen deutlich, dass ein großer Teil der Wahlberechtigten in Bosnien-Herzegowina sich durch keine politische Partei vertreten fühlt. Und dies, obwohl die Medien trotz formaler Pressefreiheit komplett als Sprachrohre der politischen Eliten fungieren und deren Propaganda unhinterfragt verbreiten. Während wir im Kleinbus von Sarajevo nach Tuzla und von dort weiter nach Banja Luka fahren, haben wir Gelegenheit, die noch überall hängenden Wahlplakate zu bewundern: Politikerinnen und Politiker in heldenhafter Pose mit markigen Parolen und nationalistischem Pathos säumen die Straße. Von "Kampf" ist die Rede, vom "serbischen Sieg" und von "unserer Sache". Keine Rede ist von hungernden Rentnerinnen und Rentnern, von jungen Menschen ohne Perspektive, von Diskriminierungen und einem maroden Gesundheitswesen, also von all diesen Dingen, deren Verbesserung dringend auf der Tagesordnung stehen müsste.

In den Gesprächen mit Abgeordneten klingt manche Selbsterkenntnis an, etwa wenn Radojčić von den Traumata des Krieges spricht oder zugibt, dass die Privatisierungen in der Republika Srpska zu schlechten Ergebnissen geführt hätten. Und der Abgeordnete Mesić von der sozialdemokratischen Partei SDP hält den Kampf gegen die Korruption für verloren. Aber wir müssen uns auch viel politische Linguistik anhören. Die alles entscheidende Frage, ob die Kinder in den Schulen Bosnisch, Kroatisch, Serbisch oder Bosnjakisch lernen sollen, kostet offenbar so viel Energie, dass die viel bedeutenderen, sich unter dieser Frage verbergenden Konflikte um die Geschichtsaufarbeitung und die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft nicht angegangen werden.

Die Journalistin Gordana Katana hat deshalb auch diese drei, im Land dominierenden Volksgruppen als „Eliten ohne gemeinsame Vision“ ausgemacht. Und Alexandar Trifunović, der ein täglich bis zu 50.000-mal genutztes Online-Portal betreibt, ergänzt: "Der Krieg der Waffen wird als Krieg der Worte fortgesetzt. Die Menschen müssen ihre Verantwortung für das Land erkennen und die Geschichte aufarbeiten, weil es sonst keine gemeinsame Zukunft geben kann."

Beobachterinnen von außen erscheint die Verfassung von Dayton für eine solche gemeinsame Zukunft nur wenig tauglich. Die komplizierte Gliederung in zwei ethnisch verfasste Entitäten und 10 Kantone sowie das selbstständige "Kondominium" Brcko führt zu ewigen Zuständigkeitsdebatten zwischen den Ebenen. Problematisch ist auch, dass in dieser Verfassung Kroaten und Bosniaken als Völker mit eigenen Rechten definiert werden, während diejenigen, die nationalen Minderheiten angehören oder sich einer ethnischen Zuordnung verweigern, nur eingeschränkte Rechte haben.

 Sarajevo: Im Hotel sind keine Waffen erlaubt. Neben den rechtlichen und emotionalen Altlasten des Bürgerkriegs gibt es allerdings auch noch eine ganze Menge sehr konkrete Altlasten: General Heidecker, Kommandant der EUFOR-Mission, berichtet uns, dass noch etwa 18.000 t Munition auf ihre Vernichtung warten. Diese Altbestände sind zum Teil über 50 Jahre alt, sie sind schlecht gelagert worden und daher ein dauerndes Sicherheitsrisiko. Daneben gibt es auch noch 40.000 Waffensysteme, deren Zukunft weiterhin ungeklärt ist. Bevor sie verkauft, verschenkt oder vernichtet werden können, muss geklärt werden, wem diese Waffen früher gehört haben, weil die ursprünglichen Besitzer zu 80 Prozent am Verkaufserlös beteiligt werden müssen.

Und so liegt ein großer Teil dieser Waffen und der Munition auch 19 Jahre nach dem Waffenstillstand von Dayton weiterhin schlecht gesichert in Hallen und Kasernen - als materielles Erbe des Krieges. Für mich ist vollkommen unverständlich, dass die internationale Gemeinschaft diese Zustände duldet. Müsste man nicht die Zahlung von Finanzhilfen daran koppeln, dass solche gefährlichen Überreste unschädlich gemacht werden, bevor sie noch mehr Schaden anrichten können?

Weitere Hypotheken für die Zukunft verbergen sich im Bildungswesen. Immer wieder weisen uns unsere Gesprächspartner darauf hin, dass die Schulen des Landes nicht geeignet sind, um kritikfähige, tolerante Menschen zu erziehen. "Nationalistisch vergiftet" würden die Kinder dort. Zwar gibt es ein Urteil des Verfassungsgerichtes, das die ethnische Trennung der Schulkinder in der bosnisch-kroatischen Föderation verbietet, doch die Politik setzt dieses Urteil ebenso wenig um wie 85 weitere höchstrichterliche Entscheidungen und das sogenannte Seijdić-Finci-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das ein diskriminierungsfreies Wahlrecht fordert: http://de.m.wikipedia.org/wiki/Jakob_Finci

Dennoch gibt es Hoffnung auf Veränderungen. Viele Menschen sind diese Politik der Erstarrung und der Konfrontation leid. Sie sind es leid, als europäische Niedriglohnsklaven in Callcentern zu schuften, sie sind es leid, nicht mitreden zu dürfen, wenn es um die Zukunft ihrer Kinder geht. Immer lauter fordern sie Mitsprache, Demokratie, soziale und Menschenrechte. Dass an den jüngsten Parlamentswahlen nur knapp über 50 Prozent teilnahmen, und dass von diesen dann auch noch bis zu 20 Prozent ungültig wählten, das ist ein deutliches Zeichen der wachsenden Unzufriedenheit.

Gleichzeitig aber fürchten sich viele davor, dass auch soziale Auseinandersetzungen wieder zu massenhafter Gewalt führen könnten. Die brennenden Regierungsgebäude im Februar dieses Jahres haben viele Menschen verunsichert. Deswegen ist es so wichtig, alle Initiativen zu unterstützen, die eine Kultur der Gewaltfreiheit entwickeln können. Und es bleibt auch 19 Jahre nach dem Friedensschluss absolut notwendig, Initiativen zu unterstützen, die Menschen über die ethnischen und religiösen Grenzen hinweg zusammenbringen. Ich werde deshalb auch in diesem Jahr wieder für die Aktion „Ferien vom Krieg“ spenden, die ehrenamtlich und unabhängig Kindern und Jugendlichen aus den Ländern des westlichen Balkans gemeinsame Ferienerlebnisse verschafft.

www.ferien-vom-krieg.de/index.php/spenden