Ein Manifest für wirtschaftliche Vernunft

Aufruf an deutsche PolitikerInnen

Kathrin Vogler hat einen Aufruf unterzeichnet, in dem Wirtschaftswissenschaftler darauf hinweisen, dass die Politik der Ausgabenkürzungen die derzeitige Krise verschärft, anstatt sie zu bekämpfen.

Der Aufruf kann hier in deutsch gelesen werden.


Über vier Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise befinden sich die größten Industrieländer der Welt noch immer in einer tiefen Rezession, ein Szenario, das allzu sehr an die Dreißiger Jahre erinnert. Der Grund dafür ist einfach: Wir stützen uns auf die gleichen Konzepte, die Ende der Dreißiger Jahre die Politik beherrschten. Diese Konzepte, die seit Langem widerlegt sind, beinhalten grundlegende Fehler sowohl hinsichtlich der Ursachen und der Natur der Krise als auch der angemessenen Reaktion.

Diese Fehler sind im Bewusstsein der Öffentlichkeit tief verankert und der Grund für die öffentliche Unterstützung für den exzessiven Sparkurs in der derzeitigen Finanzpolitik vieler Länder. Deshalb ist es an der Zeit für ein Manifest, in dem etablierte Wirtschaftswissenschaftler der Öffentlichkeit eine stärker auf Fakten basierende Analyse unserer Probleme bieten.

Die Ursachen. Viele Politiker vertreten die feste Meinung, dass die Krise durch unverantwortliche Staatsverschuldung entstanden ist. Mit wenigen Ausnahmen – abgesehen von Griechenland – ist dies falsch. Stattdessen wurde die Krise durch überhöhte Kredite und Darlehen des privaten Sektors, einschließlich von hoch fremdfinanzierten Banken, verursacht. Der Kollaps dieser Blase führte zu einem erheblichen Produktionsrückgang und somit einem Einbruch der Steuereinnahmen. Die großen Staatsdefizite, denen wir heute gegenüber stehen, sind also eine Folge der Krise, nicht deren Ursache.

Die Natur der Krise. Als Immobilienblasen auf beiden Seiten des Atlantiks platzten, haben viele in der Privatwirtschaft ihre Ausgaben radikal gekürzt, um ihre aufgelaufenen Kreditschulden abzuzahlen. Dies war eine vernünftige Reaktion von Privatpersonen, jedoch hat sie sich – genau wie die ähnliche Reaktion von Schuldnern in den Dreißiger Jahren – insgesamt als sinnlos herausgestellt, da die Ausgaben einer Person das Einkommen einer anderen sind. Die Folge des Einbruchs der Ausgaben war eine Wirtschaftskrise, die die Staatsschulden noch vergrößerte.

Die angemessene Reaktion. In einer Zeit, in der sich der gesamte Privatsektor bemüht, weniger auszugeben, sollte die Politik als stabilisierende Kraft agieren und versuchen, die Ausgabenhöhe beizubehalten. Zumindest sollten wir die Lage nicht durch große Einsparungen bei den Staatsausgaben oder eine starke Anhebung der Steuersätze für die Bevölkerung verschlimmern. Unglücklicherweise tun einige Regierungen zur Zeit genau das.

Der große Fehler. Nachdem in der ersten akuten Phase der Wirtschaftskrise gut reagiert worden war, gab die konventionelle politische Lehre durch die Konzentration auf Staatsdefizite, die hauptsächlich Folge eines durch die Krise ausgelösten Rückgangs in Einnahmen waren, die falsche Richtung vor. Es wurde argumentiert, die öffentliche Hand solle parallel mit dem Privatsektor versuchen, die Schulden zu reduzieren. Dies hatte zur Folge, dass die Finanzpolitik die wachstumshemmenden Auswirkungen der Ausgabenkürzungen des Privatsektors noch verstärkte, anstatt eine stabilisierende Rolle zu spielen.

Wäre der Schock nicht ganz so heftig ausgefallen, hätte die Geldpolitik die Auswirkungen auffangen können. Bei Zinssätzen nahe Null kann die Geldpolitik – die alles tun sollte, was sie kann – ihre Wirkung nicht entfalten. Es muss natürlich einen mittelfristigen Plan zur Verringerung des Staatsdefizits geben. Aber wenn diese Maßnahmen am Anfang stehen, können sie den Aufschwung abwürgen und somit sinnlos sein. Hohe Priorität hat die Verringerung der Arbeitslosigkeit, bevor sie zum Dauerthema wird und einen Aufschwung und eine künftige Verringerung des Defizits noch schwieriger macht.

Was sagen diejenigen, die die derzeitige Politik unterstützen, zu diesen Argumenten? Sie bringen zwei ganz unterschiedliche Argumente vor, um ihren Standpunkt zu verteidigen.

Das Argument Vertrauen. Ihrem ersten Argument zufolge erhöhen Staatsdefizite die Zinssätze und verhindern somit einen Aufschwung. Eine Sparpolitik dagegen, argumentieren sie, würde das Vertrauen erhöhen und somit einen Aufschwung fördern.

Es gibt jedoch überhaupt keine Beweise, die dieses Argument stützen. Erstens sind trotz außergewöhnlich hoher Defizite die aktuellen Zinssätze in allen großen Ländern, in denen es eine normal funktionierende Zentralbank gibt, beispiellos niedrig. Dies trifft sogar für Japan zu, wo das Staatsdefizit derzeit das Bruttoinlandsprodukt um 200% übersteigt. Vergangene Herabstufungen durch die Ratingagenturen hatten keine Auswirkungen auf die Zinssätze in Japan. Die Zinssätze sind nur in einigen Euroländern hoch, da es der EZB nicht gestattet ist, als Kreditgeber der letzten Instanz für Regierungen zu fungieren. In anderen Ländern kann die Zentralbank immer, sofern erforderlich, das Defizit finanzieren und somit den Anleihemarkt unbeeinflusst lassen.

Darüber hinaus haben die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt, dass es bisher keinen relevanten Fall gegeben hat, in dem Haushaltskürzungen tatsächlich die Wirtschaftstätigkeit belebt hätten. Der IWF hat 173 Fälle von Haushaltskürzungen in einzelnen Ländern untersucht und herausgefunden, dass die Folge stets ein Konjunkturabschwung ist. In den wenigen Fällen, in denen eine Haushaltskonsolidierung Wirtschaftswachstum zur Folge hatte, geschah dies in erster Linie durch eine Abwertung der Währung in einem stabilen Weltmarkt, was derzeit nicht möglich ist. Die Lehre aus dieser IWF-Studie ist eindeutig: Haushaltskürzungen verzögern den Wirtschaftsaufschwung. Und das ist genau das, was zur Zeit geschieht: Die Länder mit den massivsten Haushaltskürzungen müssen auch den größten Produktionsrückgang verzeichnen.

Wie wir jetzt sehen, wecken Haushaltskürzungen bei den Unternehmen kein Vertrauen . Unternehmen investieren nur, wenn sie absehen können, dass es genügend Kunden mit ausreichend verfügbarem Einkommen geben wird. Sparpolitik hemmt Investitionen.

Somit spricht sehr viel gegen das Argument Vertrauen. Alle angeblichen Beweise zu Gunsten dieser Lehre haben sich bei genauer Betrachtung als unzutreffend erwiesen.

Das Argument der strukturellen Ungleichgewichte. Ein zweites Argument gegen die Erweiterung der Nachfrage ist die Abhängigkeit der Produktionsleistung vom Angebot infolge struktureller Ungleichgewichte. Wenn diese Theorie zuträfe, sollten zumindest einige Bereiche unserer Wirtschaft voll ausgelastet sein und in einigen Berufszweigen Vollbeschäftigung herrschen. In den meisten Ländern ist das jedoch nicht der Fall. Allen wichtigen Sektoren unserer Volkswirtschaften geht es schlecht und in allen Berufszweigen herrscht höhere Arbeitslosigkeit als üblich. Somit muss das Problem in einem allgemeinen Mangel an Kaufkraft und Nachfrage begründet liegen.

In den Dreißiger Jahren wurde das gleiche Argument der strukturellen Ungleichgewichte gegen die aktive Ausgabenpolitik in den USA verwendet. Als die Ausgaben aber zwischen 1940 und 1942 zunahmen, wuchs die Produktionsleistung um 20%. Somit war das Problem der Dreißiger Jahre, genau wie heute auch, die schwache Nachfrage und nicht Knappheit auf der Angebotsseite.

-----------------------

Durch ihre irrigen Auffassungen verursachen viele Politiker in westlichen Ländern bei ihren Bevölkerungen großes Leid. Ihre Ansichten bezüglich des Vorgehens in einer Rezession wurden jedoch nach den Katastrophen der Dreißiger Jahre von fast allen Wirtschaftswissenschaftlern verworfen. In den ungefähr vierzig Jahren danach erlebten die westlichen Länder eine nie dagewesene Zeit wirtschaftlicher Stabilität und geringer Arbeitslosigkeit. Tragischerweise haben die alten Vorstellungen in den letzten Jahren wieder Wurzeln gefasst. Wir können jedoch keine Situation mehr akzeptieren, in der falsche Ängste vor höheren Zinssätzen bei Politikern mehr Gewicht haben als der Schrecken einer Massenarbeitslosigkeit.

Welche Politik die bessere ist, wird von Land zu Land unterschiedlich sein und bedarf einer ausführlichen Debatte. Die Politik muss jedoch auf einer zutreffenden Analyse des Problems basieren. Aus diesem Grund legen wir allen Wirtschaftswissenschaftlern und allen Anderen, die dem Grundtenor dieses Manifests folgen, nahe, ihre Zustimmung deutlich zu machen, in dem sie sich unter www.manifestoforeconomicsense.org registrieren und sich öffentlich für eine vernünftigere Vorgehensweise stark machen. Die ganze Welt leidet, wenn Männer und Frauen sich nicht zu etwas äußern, obwohl sie wissen, dass es falsch ist.


Der Aufruf kann hier im Original gelesen und unterzeichnet werden: